Freitag, Oktober 18

Ärzte müssen ihre Patienten oft über abstrakte Gesundheitsrisiken aufklären. Das ist dann besonders anspruchsvoll, wenn sich der Patient beschwerdefrei fühlt. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».

Bei manchen Gesprächen, die ich als Arzt in der Sprechstunde führe, kommt mir eine Passage aus dem 1940 erschienenen Roman «Zeit muss enden» des britischen Schriftstellers Aldous Huxley in den Sinn. Sein Protagonist Sebastian reflektiert darin die seltsame Natur des Menschen. In der Politik würden für den irrationalen Traum eines «Opiumrauchers» potenziell Millionen von Menschenleben geopfert, auch wenn die Erreichbarkeit seiner Utopie völlig ungewiss sei. Dagegen werde die Natur für kurzfristigen Gewinn massakriert, obwohl die desaströsen Konsequenzen offensichtlich seien, so die Erkenntnis von Sebastian.

Im einen Fall opfern wir die stabile Gegenwart einer unsicheren Zukunft, im anderen stellen wir die kurzfristige Bequemlichkeit über die absehbaren katastrophalen Folgen. Mehr als achtzig Jahre nach ihrer Veröffentlichung ist Huxleys Reflexion höchst aktuell.

Dies gilt auch im medizinischen Kontext. Er sehe nicht ein, warum er ein Medikament schlucken solle, erklärte mir vor einiger Zeit ein Patient. Es gehe ihm doch gut, er fühle sich völlig gesund. Zweifellos wollte er mich mit seinem Statement aus der Reserve locken. Der in der Musikbranche tätige Künstler und «Lebemensch» war keineswegs auf den Kopf gefallen. Er liebte es vielmehr, zu disputieren und zu provozieren. Nur: Sein Blutdruck war deutlich zu hoch, und das nicht erst seit gestern.

Eine 24-Stunden-Messung hatte die letzten Zweifel an dieser Tatsache ausgeräumt. Seine Zucker- und Cholesterinwerte lagen nicht mehr im grünen, sondern bestenfalls im orangen Bereich. Dazu kam, dass bei mehreren seiner nahen Verwandten – unter ihnen sein Vater – in relativ jungen Jahren Herzinfarkte oder Schlaganfälle aufgetreten waren. Dies schränkte den Diskussionsspielraum aus ärztlicher Sicht deutlich ein.

Auch wenn es sich im Einzelfall nie mit Sicherheit voraussagen lässt, ist absehbar, wohin der Weg in solchen Fällen führt. Dafür gibt es eine Reihe einprägsamer Bilder. Der Truthahn fühle sich bis am Vorabend von Thanksgiving wohl auch recht gut, pflege ich dann beispielsweise zu sagen. Oder wer auf eine Wand zurase, habe bis zum Aufprall keine Beschwerden.

Ich halte nichts von einer moralisierenden Medizin, die den Menschen vorschreiben will, wie sie ihr Leben zu gestalten haben. Die Maxime «Leben sollte Spass machen», die ich als Student von einem meiner Lehrer hörte, gefällt mir immer noch gut. Aber die Patientinnen und Patienten dürfen erwarten, dass ihnen in der Sprechstunde gut abgestützte medizinische Erkenntnisse vermittelt werden, die für ihre Gesundheit relevant sind. Die Entscheidung darüber, wie sie damit umgehen, liegt selbstverständlich bei ihnen. Auf seine Gesundheit zu achten, ist glücklicherweise keineswegs inkompatibel mit Lebensfreude, auch wenn dies häufig kolportiert wird. Mittel- und langfristig trifft sogar das Gegenteil zu.

Im Fall meines Künstler-Patienten einigten wir uns nach zähem Ringen neben geringfügigen Modifikationen seines Lebensstils auf eine kleine Dosis eines blutdrucksenkenden Medikaments. Zwar mokiert er sich in der Sprechstunde weiterhin über die Fixierung der Medizin auf Zahlen, wenn er mit seinen Daten zu den Verlaufskontrollen anrückt. Aber es ist offensichtlich, dass er sich über die mittlerweile guten Werte freut.

In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.

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