In ihrem Buch «Auf allen vieren» geht es um Lust, Sex und Urin. Vor allem aber um die Menopause – von da an, schreibt die amerikanische Autorin, gehöre der Körper der Frau zum ersten Mal ihr selbst.

Marcel Reich-Ranicki, nicht einfach Literaturkritiker im deutschen Feuilleton, sondern Karrieremacher und -zerstörer, sagte am allerersten Bachmann-Preis 1977: «Das ist ein Skandal, wie sie schreibt. Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen.» Aus dieser Perspektive hat die amerikanische Künstlerin Miranda July (50) sich gerade hochgradig strafbar gemacht.

Doch die menstruierende Frau, der blutige Tampon und die Gedanken und Gefühle, die mit ihm zusammen aus dem Innern der Protagonistin ans Licht gezogen und von der Autorin minuziös beschrieben werden, wären wohl noch Reich-Ranickis kleinstes Problem. In «Auf allen vieren» geht es July nicht nur um einen menstruierenden Körper, sondern vielmehr um einen, der im Begriff ist, damit aufzuhören. Das Stichwort lautet: Perimenopause. Die Phase vor den Wechseljahren. Was nach feuchten Händen und trockener Vagina tönt, ist tatsächlich vor allem das: ein lustvoller Rausch über 400 Seiten.

Von «Schamesröte» ist etwa bei SRF die Rede, als es um Julys neuen Roman geht. Aber auch davon, wie gesellschaftlich relevant er sei, wie wichtig für die Wahrnehmung der gesamten Lebensspanne einer Frau und das Normalisieren ihrer Sexualität. Wie anders dieses Buch sei. Etwas noch nie Dagewesenes.

Ein Blick durch das Teleobjektiv

Die Geschichte beginnt mit einem Teleobjektiv und mit Brian, dem Nachbarn. «Wenn wir irgendetwas von Brian gelernt hatten, dann, dass man eine Anstellung beim FBI nicht geheim hielt wie etwa eine bei der CIA», stellt die namenlose Ich-Erzählerin trocken fest. Brian ist sehr mitteilungsbedürftig. Und er hat beobachtet, wie ein Fremder Fotos vom Haus der Protagonistin schoss. Diese ist erst besorgt um Mann und Kind. Dann malt sie sich aus, wie jemand seinen voyeuristischen Blick lüstern auf sie, die Hausherrin, richtet. Zu dieser Vorstellung befriedigt sie sich mehrmals selbst.

Damit ist der Ton gesetzt. Der Blick von aussen ist der Protagonistin, einer 45-jährigen Frau, immens wichtig. Wie ein Makler schätzt sie den Wert ihres alternden Körpers auf dem Markt des Begehrens immer neu ein – und bessert hie und da ein wenig nach. Als sie etwa erkennt, dass ihre Pobacken nicht mehr so rund und straff sind wie einst, trainiert sie verbissen gegen die Gravitation an.

Gleichzeitig überwindet sie in Bezug auf die eigenen sexuellen Bedürfnisse immer wieder neue Hemmschwellen. Weil das Frauen sehr selten öffentlich tun – erst recht nicht jene, deren Pobacken bereits zu hängen beginnen –, wird die Lust der Frau zu einem Akt der Rebellion. Und Julys Blick mit dem Teleobjektiv tatsächlich zu einer Betrachtung, die ihresgleichen sucht.

Sie fährt niemals nach New York

Die Protagonistin, wie July auch Künstlerin und erfolgreich in verschiedenen Medien, hat einem Whisky-Hersteller für 20 000 Dollar die Rechte an einem Satz verkauft, den sie eigentlich über Handjobs geschrieben hat. Penis oder Alkohol, Hans was Heiri. Das Geld solle sie, so rät es ihr Mann Harris, für sich verbrauchen – nein: verprassen. Nicht mit Bedacht investieren, nicht für die Zukunft des gemeinsamen, nonbinären Kindes Sam zur Seite legen, sondern mit Lust und vollen Händen ausgeben.

Um sich selbst zu beweisen, dass sie das kann, will die Frau mit dem Auto von Los Angeles quer durch die USA nach New York fahren. Doch bereits nach einer halben Stunde wird der Road- zum Selbstfindungstrip. Sie lässt sich an einer Tankstelle von einem jungen Mann die Windschutzscheibe putzen und beschliesst gleich danach, nicht weiter gen Osten zu fahren.

Im Städtchen Monrovia quartiert die Frau sich in einem billigen Motel ein. Statt ihr Geld mit Freundinnen in Manhattan für Spa und Drinks zu verbrauchen, heuert sie eine Innendekorateurin an, die ihr das hässliche Motelzimmer verschönern soll. Erst irritiert, dann begeistert, macht Claire sich an die Arbeit.

Drei, zwei, eins – los!

Seit Virginia Woolf ist der Wunsch nach einem Zimmer für sich allein ein kollektiver. Julys Protagonistin macht sich den Traum selbst zur Realität. Mit dieser Referenz ist auch die literarische Erbfolge geklärt. «Auf allen vieren» ist ein feministisches Buch.

Ein Zimmer also, in dem sie ihre Ruhe hat. In dem sie schreiben könnte. Doch statt dass ein neues Buch entsteht in dem Zimmer 321, entsteht ein neuer Mensch. Kein Baby, nein, vielmehr kommt es zu einer Wiedergeburt.

In ihrem schönen neuen Hotelzimmer überdenkt die Frau ihre Ehe und das Konzept der Monogamie. Die Nähe in Freundschaften und die seltsame Verstelltheit in manchen Beziehungen. Sie vermisst ihr Kind, streunt durch Monrovia und hat Sex mit sich selbst auf der neuen Tempur-Matratze. Kauft sich einen Glitzerdildo, weil die Hand irgendwann nicht mehr reicht, und merkt, wie sie auf eine – wie sie erklärt – männliche, nämlich rein körperliche Art zu begehren beginnt. Und zwar einen viel jüngeren Mann.

Davy, angelehnt vielleicht an Michelangelos perfekten David, ist Tänzer, Leihwagenhändler und der Ehemann von Claire. Er war es, der der Protagonistin an der Tankstelle die Scheiben putzte. Mit ihm beginnt die Frau eine Affäre, in der alles erlaubt ist, ausser Sex.

Bei July wird sinnlich, was auch eklig sein könnte. Die Protagonistin hält etwa den Penis ihres jungen Geliebten, während er uriniert. Er zieht ihr einen Tampon aus der Vagina, während sie auf ihm kniet. Etwas Blut spritzt dabei auf seine Hose, aber er bemerkt es nicht. Reich-Ranicki hätte spätestens an dieser Stelle das Buch zugeklappt.

So viel Fleisch

Sosehr die Frau es sich auch wünscht: Zur Penetration mit dem jungen Mann kommt es nie. Sex im Motelbett hat sie stattdessen mit der 60-jährigen Antiquitätenhändlerin Audra. «Ich hatte noch nie einen so grossen und runden Körper berührt; ich packte ihre Schenkel, ihren riesigen Arsch (. . .) Ihre Haut wurde altersbedingt schon etwas dünner, wie bei einer Banane, aber sie fühlte sich nicht eklig an, sondern unglaublich gut, samtweich wie warmes Wasser. Ja scheiss doch die Wand an, dachte ich. Wer hätte das gedacht?»

July beobachtet und beschreibt, sie beschönigt nie. Darin liegt die Stärke von «Auf allen vieren». Die Brüste, July schreibt gerne «Titten», hängen mit Mitte vierzig bereits etwas, mit sechzig so richtig. Das sieht bei July aus, wie es auch im Spiegel aussieht. Aber July schaut nicht nur, sie fasst auch an. Ihre Figuren sind stets ehrlich in ihrem Verlangen. Diese Authentizität schützt sie vor Lächerlichkeit.

«Auf allen vieren» ist die Geschichte einer Künstlerin und Mutter, Gattin, bester Freundin und Nachbarin. Sie hat keinen Namen, dafür Jedefrau-Qualitäten. Das macht den Zugang zu dieser Geschichte trotz ihrem spezifischen Thema für alle leicht.

Die Frau ist Objekt von Begierde und Mitleid, dem Alterungsprozess ebenso ausgesetzt wie jeglichen Stereotypen und Idealen, die man heute hinsichtlich attraktiver Körper und erstrebenswerter Lebensformen hat.

Coming-of-Age

Von Sonett bis Pop-Song, Jugendbuch bis Kinofilm: Coming-of-Age, also das Erwachsenwerden, wird erzählerisch zelebriert. Der Übergang von der Kindheit ins gebärfähige Alter ist ein Moment der Verwirrung, aber auch der Freude: Die Hormone machen aus einem Mädchen eine Frau. Nun ist sie offiziell begehrenswert. Jetzt gehört sie der Welt.

Doch auch die Menopause ist ein transformativer Moment. Zum ersten Mal, und das arbeitet July in ihrem Roman wunderbar heraus, gehört der Körper der Frau tatsächlich voll und ganz ihr selbst. Sie muss jetzt weder Kinder kriegen noch gefallen. Was July beschreibt, ist Coming-of-Age in einer wortwörtlichen Übersetzung: ins Alter kommen.

Dass man damit nicht alles verliert, sondern auch viel gewinnt, Freiheiten vor allem, liest man sonst selten. Darin dürfte ein Grund für den grossen Applaus für Julys neustes Werk liegen. Eine Gesellschaft, die immer älter wird, hat keine Lust, sich vor den Veränderungen zu fürchten, die die Jahre mit sich bringen. Und glaubt man July, muss man das auch nicht.

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