Sonntag, April 20

Sie waren Kinder, wehrlos, oft unter Narkose. Nun stehen Hunderte mutmassliche Opfer im Mittelpunkt eines Prozesses, der Frankreich erschüttert. Der ehemalige Arzt Joël Le Scouarnec muss sich für jahrzehntelangen Missbrauch verantworten.

In Frankreich steht der grösste Kindesmissbrauchs-Prozess der Landesgeschichte bevor. Auf der Anklagebank sitzt Joël Le Scouarnec, ehemaliger Arzt und Chirurg. Auf 1655 Seiten dokumentierte er seine mutmasslichen Taten, die Namen seiner Opfer, ihr Alter, die Orte. Auch was er empfand, als er die Kinder missbrauchte, lässt sich in seinem «Tagebuch» nachlesen, wie es die französischen Medien nennen.

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«Es gibt nichts Schöneres auf der Welt als den Körper eines kleinen Mädchens», schrieb er oder: «Guillaume, entzückender kleiner Junge».

Das Ausmass seiner Verbrechen erstreckt sich über Jahrzehnte – so umfangreich, dass die Justiz den Prozess in zwei Teile aufteilen musste. An diesem Montag beginnt in Vannes, Bretagne, der zweite Teil des Strafverfahrens gegen den inzwischen 74-jährigen Le Scouarnec. Bereits 2020 wurde er wegen des Missbrauchs von 4 Kindern zu 15 Jahren Haft verurteilt, damals noch hinter verschlossenen Türen. Nun stehen 111 Vergewaltigungen und 189 sexuelle Übergriffe zur Verhandlung.

Die Dimensionen des Falls erschüttern: 299 Opfer, 158 Jungen und 141 Mädchen, ein Durchschnittsalter von elf Jahren. Erst vor wenigen Monaten hatte der Prozess gegen Dominique Pelicot in Avignon die Öffentlichkeit erschüttert.

Wollte seine Patienten immer alleine konsultieren

Le Scouarnec genoss als Chirurg in den ländlichen Gebieten Frankreichs einen hervorragenden Ruf. Er war jahrzehntelang in verschiedenen Kliniken tätig, unter anderem in Vannes, Quimperlé oder Lorient. Der Vater dreier Söhne wurde von Kollegen und Patienten als freundlich, zugänglich, zuvorkommend wahrgenommen. In einer Region mit akutem Ärztemangel war man froh, ihn zu haben. Wie die «Süddeutsche Zeitung» berichtet, wurde er kurz vor seinem Ruhestand sogar gebeten, doch noch etwas länger zu bleiben.

Le Scouarnec bestand darauf, seine jungen Patienten ohne Begleitung zu untersuchen – ein Umstand, den seine Kollegen kaum hinterfragt haben sollen. In allseits überlasteten Spitälern ist jede Entlastung willkommen. In seinem Tagebuch hält er fest, wie er diese Situationen für seine Übergriffe nutzte. Manche Opfer soll er auf dem Operationstisch vergewaltigt haben, während sie noch unter Narkose standen. Das französische Magazin «Le Point» veröffentlichte einige dieser Einträge, schwärzte jedoch Namen und besonders verstörende Passagen – sie seien «unerträglich».

Sein Name steht heute für ein jahrzehntelanges Systemversagen. 2005 war Le Scouarnec Teil eines Netzwerks von Männern, das im Zuge einer internationalen FBI-Ermittlung aufflog. Über eine russische Website hatte er Bilder und Videos heruntergeladen, die sexuellen Missbrauch an Kindern zeigten. Als die Polizei sein Haus durchsuchte, waren belastende Beweise bereits verschwunden – er hatte sie in die Klinik gebracht. In seinem Tagebuch notierte er später seine Erleichterung darüber, unentdeckt geblieben zu sein.

Für den Besitz der Aufnahmen wurde er zu 4 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Doch weitergehende Konsequenzen blieben aus: keine Therapie, kein Berufsverbot. So konnte er ungehindert weiter praktizieren und wurde 2006 zum Leiter der Chirurgie in Quimperlé befördert – ohne dass dort jemand von seiner Verurteilung wusste.

Enthüllung des Doppellebens

Innerhalb der Familie des Arztes sollen Le Scouarnecs Neigungen kein Geheimnis gewesen sein. Laut den offiziellen Gerichtsdokumenten soll seine Frau bereits in den 1990er Jahren erfahren haben, dass er sich an seiner Nichte vergangen hatte. Doch anstatt Konsequenzen zu ziehen, soll sie lediglich abgewiegelt haben – solche Neigungen seien nicht ungewöhnlich. Nach aussen wurde geschwiegen.

Im Jahr 2017 kam die Wahrheit ans Licht. Ein sechsjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft berichtete seinen Eltern von dem älteren Mann nebenan, wie er sich vor ihr entblösst und sie berührt habe. Die besorgten Eltern wandten sich an die Polizei, die daraufhin Le Scouarnecs Haus durchsuchte. Seine Frau hatte ihn inzwischen verlassen. In seinem allein bewohnten Haus entdeckten die Ermittler eine verstörende Sammlung: 22 Puppen in Kindergrösse, Perücken, Festplatten mit Tausenden kinderpornografischen Fotos, Videos und sein detailliertes Tagebuch.

Le Scouarnec bestritt im ersten Prozess zunächst die Vorwürfe, änderte jedoch mehrfach seine Aussagen. Er behauptete, einige seiner Aufzeichnungen seien blosse Phantasien und nicht tatsächlich begangene Taten. Laut seinen eigenen Notizen interessierte er sich privat für sadomasochistische Rollenspiele und soll dabei Windeln und Perücke getragen haben.

In seinen Tagebüchern schrieb er offen über seine Neigungen und bezeichnete sich selbst als Pädophilen sowie als «Exhibitionisten, Voyeur und Fetischisten».

Jahrzehntelanges Systemversagen

Dank seinen minuziösen Aufzeichnungen konnten die Ermittler Klinikakten mit seinen Notizen abgleichen und über 299 mutmassliche Opfer identifizieren. Viele Betroffene erfuhren erst durch die Ermittlungen, dass sie missbraucht worden waren – weil sie unter Narkose standen, zu jung waren, um zu verstehen, oder das Trauma verdrängt hatten. Einige berichteten von Panikattacken und psychischen Problemen, die sie sich erst jetzt erklären konnten.

Die französischen Behörden werden nun vor die Frage gestellt, warum ein bereits 2005 verurteilter Sexualstraftäter weiterhin mit Kindern arbeiten konnte. Die Rolle der Klinikverwaltungen und möglicher Mitwisser gerät in den Fokus. Wurde bewusst weggesehen?

Der zweite Teil des Prozesses gegen Joël Le Scouarnec wird sich über vier Monate erstrecken – eine logistische Herausforderung angesichts der zahlreichen Nebenkläger. Um allen Beteiligten Raum zu geben, musste ein grösserer Verhandlungssaal gefunden werden, da das kleine Gericht in Vannes dem Ausmass des Verfahrens nicht gewachsen ist. In einer umfunktionierten Aula der Universität wird nun verhandelt – nicht nur über die Schuld eines einzelnen Mannes, sondern über ein System, das darin versagte, Hunderte Kinder zu schützen.

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