Mittwoch, Oktober 9

Israels Präsident hat den tödlichen Angriff jüdischer Siedler auf das palästinensische Dorf Jit als Pogrom verurteilt. Den Einwohnern hilft das wenig – denn Jit ist kein Einzelfall.

Es war etwa 19 Uhr 30 am Donnerstag, als die Ruhe in Jit jäh durchbrochen wurde. Kurz nach Sonnenuntergang kamen rund hundert schwarzgekleidete Männer mit Sturmgewehren bewaffnet in das kleine Dorf im nördlichen Westjordanland. Bei den Männern handelte es sich um israelische Siedler, die den Überfall offenbar gut geplant hatten. So berichten es die Bewohner von Jit.

Vor dem Haus der Familie von Hassan Arman riecht es drei Tage nach dem Angriff immer noch nach verbranntem Plastik. «Es begann um 19 Uhr 40, mehr als zehn Siedler kamen von dort, schlugen die Scheiben des Autos ein und zündeten es sofort an», sagt Arman vor seinem Haus und zeigt die Strasse entlang, die einen Hügel hinaufführt. Ein paar Meter weiter steht sein komplett ausgebrannter Hyundai.

«Danach drangen sie auf den Hof ein und versuchten, die Haustür einzutreten», erzählt der muskulöse 28-Jährige. Im Erdgeschoss befanden sich seine zwei jüngeren Schwestern. Arman, der zuvor auf ein Feld gerannt war, um die Siedler mit Steinen zu vertreiben, sprintete «wie ein Verrückter» zurück zum Haus und schlug dem ersten Mann, den er zu fassen bekam, mit der Faust ins Gesicht. Daraufhin seien die Siedler auf die umliegenden Felder geflohen.

Als der Angriff begann, waren die jungen Männer des Dorfes über die Lautsprecher der Moschee dazu aufgerufen worden, das Dorf zu verteidigen. Etwa zwanzig Minuten später versammelten sich 50 bis 60 Menschen vor Armans Haus, um es vor den Siedlern zu beschützen. Einer der Männer, der dem Aufruf folgte, war der 23-jährige Rashid al-Seda. Er sollte die Nacht nicht überleben. Er wurde erschossen, als ein Siedler mit einem Sturmgewehr das Feuer auf eine Gruppe Dorfbewohner eröffnete.

Israels Politik reagiert schockiert

Der Überfall auf das Dorf kam für Netanyahus Regierung zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Denn in Doha und Kairo verhandelt Israel dieser Tage mit der Hamas über einen Waffenstillstand in Gaza. Geht es nach der Weltgemeinschaft, soll am Ende des Kriegs ein palästinensischer Staat entstehen – im Gazastreifen und im Westjordanland. Doch die Siedlungen und die Gewalt der Siedler machen diesen Staat nahezu unmöglich. Es dauerte daher nicht lange, bis Israels Politik den Überfall verurteilte. Staatspräsident Yitzhak Herzog wählte besonders scharfe Worte und nannte den Angriff auf das 3000-Einwohner-Dorf einen Pogrom.

Ministerpräsident Benjamin Netanyahu liess erklären, er nehme den Angriff «äusserst ernst». Verteidigungsminister Yoav Gallant verurteilte die «Handvoll Extremisten», die in Jit randaliert hätten. Sogar Finanzminister Bezalel Smotrich, der selbst ein vehementer Befürworter des Ausbaus der Siedlungen im Westjordanland ist, nannte die Täter «Kriminelle, die verurteilt werden sollten».

Laut den Dorfbewohnern gingen die Siedler organisiert vor. Sie trugen ähnliche Kleidung, viele waren vermummt und hatten sich offenbar genau abgesprochen. Mehrere Einwohner von Jit sagten, die Angreifer seien keine Bewohner der umliegenden Siedlungen gewesen, sondern extremistische Siedler aus der weiteren Umgebung. Eine Untersuchung der israelischen Armee kam ebenfalls zu diesem Schluss.

Über tausend Überfälle von Siedlern seit Kriegsbeginn

Der Überfall auf Jit ist kein Einzelfall. Seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober und dem Beginn des Gaza-Kriegs hat die Gewalt radikaler Siedler im Westjordanland ein neues Ausmass erreicht. In den mehr als zehn Monaten gab es laut der Uno rund 1250 Überfälle von Siedlern. Laut den palästinensischen Gesundheitsbehörden wurden seitdem 589 Palästinenser von israelischen Soldaten und Siedlern getötet. Unter ihnen waren neben militanten Palästinensern auch viele Zivilisten.

In dem gleichen Zeitraum wurden nach Angaben der Uno 18 Israeli im Westjordanland getötet. Das letzte Opfer palästinensischer Terroristen war der 23-jährige Yonatan Deutsch, der am 11. August von einem Mann in seinem Auto auf einer Schnellstrasse im Westjordanland erschossen wurde. Die Hamas übernahm die Verantwortung für das Attentat.

Nach internationalem Recht sind die Siedlungen im Westjordanland illegal. Heute leben in dem Gebiet neben knapp drei Millionen Palästinensern etwa 500 000 israelische Siedler. Seit Israels Sieg im Sechstagekrieg 1967 ist das Gebiet israelisch besetzt. Für die Palästinenser gilt Militärrecht, für die Siedler israelisches Zivilrecht.

«Er war mehr ein Freund für mich als ein Sohn»

Viele Palästinenser hatten vor dem Gaza-Krieg in Israel gearbeitet. So auch Rashid al-Seda, der bei dem Angriff in Jit getötet wurde. Der junge Mann hatte ein Maschinenbaustudium in Nablus abgebrochen und in Israel Fliesen gelegt. Dann wurde ihm, wie fast allen Palästinensern, die Arbeitserlaubnis entzogen.

Am Mittag sitzt sein Vater Mahmud Abdelkader al-Seda im Hof des Veranstaltungsraums von Jit und nimmt die Beileidsbekundungen der Dorfbewohner entgegen. Über die Strasse haben diese ein grosses Plakat mit dem Bild seines Sohnes gespannt. «Rashid war mehr ein Freund für mich als ein Sohn», sagt Seda. «Wenn ich an ihn denke, kommen mir sofort die vielen Dinge in Erinnerung, die wir zusammen gemacht haben.»

Der 54-Jährige hofft, dass die Ermittlungen der israelischen Behörden Früchte tragen. «So Gott will, wird der Mörder meines Sohnes zur Verantwortung gezogen», sagt Seda. Die Dorfbewohner, die auf Plastikstühlen um ihn herum sitzen, sind weniger zuversichtlich. «Wir haben noch nie davon gehört, dass Siedlergewalt ernsthaft verfolgt wird», zischt einer der Männer wütend.

Kurz nach dem Überfall hatte die Armee einen Siedler festgenommen, doch wurde er später von der Polizei wieder freigelassen. Diese verwies nach harscher Kritik auf die Armee, die in dem Gebiet unter Militärbesetzung die hauptsächliche Verantwortung trägt.

Die Soldaten sollen nicht interveniert haben

Wenig später versammelt sich das Dorf in einer kleinen Halle. Es sind lange Tische aufgestellt worden, ein Familienmitglied hat Reis und Poulet für die gesamte Dorfgemeinschaft gekocht. Jugendliche hängen rasch Fotos von Rashid al-Seda auf, ihrem «Märtyrer». Auch Nasser Seda ist zum Essen gekommen, der Chef der Gemeindeverwaltung von Jit.

Seine Macht ist begrenzt. Denn Jit liegt zum grossen Teil im C-Gebiet des Westjordanlandes, das Israel nahezu vollständig zivil und militärisch kontrolliert. Auch Seda hegt keine grossen Hoffnungen, dass die Siedler bestraft werden. Es sei zwar gut, dass es nun Ermittlungen gebe, sagt der 52-Jährige. «Aber selbst wenn es eine Verurteilung gibt, werden sie höchstens ein paar Tage im Gefängnis bleiben, und das war’s.»

Obwohl die Armee laut eigenen Angaben rund 45 Minuten nach Beginn des Überfalls vor Ort war, habe sie nicht viel für den Schutz der Dorfbewohner getan, sagt Seda. «Ihnen war vor allem die sichere Evakuation der Siedler wichtig.» Mehrere Dorfbewohner berichten, die Soldaten hätten schnell einen Checkpoint am Dorfeingang eingerichtet und dort eine Ambulanz und die Feuerwehr aufgehalten. Die Armee bestreitet dies. Eine Untersuchung ergab laut israelischen Medienberichten aber, dass einige Soldaten dem Angriff der Siedler tatenlos zugeschaut hätten.

Hassan Arman, dessen Auto abgefackelt wurde, glaubt nicht, dass es die letzte Attacke von Siedlern auf Jit war. Auf die israelische Armee verlässt er sich nicht. Er will nun einen Zaun um das Haus seiner Familie bauen und sich mit den anderen jungen Männern im Dorf zusammenschliessen, um auf künftige Angriffe besser vorbereitet zu sein. «Das nächste Mal werden wir schneller und härter darauf reagieren», sagt er entschlossen.

Mitarbeit: Samer Shalabi

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