Sonntag, November 17

Europas Autoindustrie schlittert immer tiefer in die Krise. Der französische Autohersteller Renault lässt nun günstige Elektroautos in China entwickeln und diese in Frankreich zusammenbauen. So will er chinesische Automarken vom europäischen Markt fernhalten.

Am Mittwochmorgen war Luca de Meo noch gemeinsam mit Präsident Emmanuel Macron auf Staatsbesuch in Marokko. Am Nachmittag steht der Chef von Renault in einer Autofabrik im nordfranzösischen Douai auf einer Bühne und sucht nach seiner Brille. Er könne sonst seine Rede nicht entziffern, sagt der Italiener mit einem Lächeln ins Publikum. «Ich werde leider älter.»

De Meo dürfte in diesem Moment Europas bestgelaunter Auto-Manager sein. Während er mit dem Publikum schäkert, dringt eine Horrormeldung nach der anderen aus den Konzernzentralen seiner Konkurrenten. Kurz vor seiner Rede hat Volkswagen einen massiven Einbruch seines Gewinns bekanntgegeben, insbesondere wegen schlechter Verkaufszahlen in China.

Nur Stunden danach liefert Stellantis die nächsten Negativschlagzeilen. Beim Mutterkonzern von Opel, Fiat, Citroën, Peugeot und weiteren Marken ist der Quartalsumsatz im Vergleich zum Vorjahr um gleich 27 Prozent eingebrochen.

Auf Elektroautos umgestellt

Nur de Meo kann noch lächeln. Renault sei der einzige europäische Autobauer, der seine Finanzziele nicht nach unten habe korrigieren müssen, sagt er ins Publikum.

Und er ist zuversichtlich, dass das so bleiben wird. Um die Gründe dafür zu erklären, hat Renault Journalisten aus ganz Europa in die modernste Fabrik des Konzerns eingeladen. Sie produzierte in der Vergangenheit Millionen Kleinwagen. Vor einem Jahr hat Renault die Anlage sowie drei weitere in der Region vollständig auf die Elektromobilität umgestellt.

In den riesigen Hallen laufen jeden Tag 500 Elektroautos vom Band. Darunter der neue Renault 5, ein kompaktes und eher günstiges Modell, für das der Konzern grosse Verkaufshoffnungen hat. Vor den Fabriktoren warten endlose Reihen des knallbunten Flitzers auf den Abtransport.

Das Werk in Douai gehört der vor einem Jahr gegründeten Renault-Tochter namens Ampere. Ihre 11 000 Mitarbeitenden kümmern sich ausschliesslich um den Bau und die Entwicklung von elektrischen Autos – nicht nur für Renault, sondern auch für Partner wie die japanische Automarke Nissan.

Zu wenig Tempo

De Meo rief Ampere vor allem aus einem Grund ins Leben. Er hatte gemerkt: Wenn Ingenieure gleichzeitig am Verbrennungsmotor und am Elektroantrieb tüftelten, kam die neue Technologie viel zu langsam voran.

Und das kann sich Renault nicht leisten. Einen Weg zurück zum Verbrenner gebe es nicht, spricht de Meo ins Publikum. «Das sage ich nicht nur als Manager, sondern auch als Autoliebhaber.»

Das Elektroauto ist nicht nur klimafreundlicher, wie der Renault-Chef ausführt. Es beschleunigt auch schneller und läuft ruhiger. Das Wichtigste sei aber gar nicht der Antrieb, sondern die Software: Weil ein Elektroauto immer mit dem Internet verbunden ist und auch dann Strom zur Verfügung hat, wenn es ungenutzt herumsteht, wird es sozusagen zum Handy auf Rädern.

2026 will Renault als Europas erster Hersteller ein «Software-definiertes Auto» auf den Markt bringen. Das in der Autobranche weit verbreitete Schlagwort bezeichnet ein Gefährt, bei dem eine einzige, zentrale Software alles steuert: den Antrieb, das Nachladen, aber auch die Klimaanlage, die Musik, die Routenplanung – und irgendwann das Öffnen des heimischen Garagentors oder das Vorheizen des Backofens in der Küche. Dank konstanten Updates sollen diese Autos stetig besser werden. Renault arbeitet dafür eng mit Google zusammen.

Wachstum von 25 Prozent pro Jahr

Europas Autoherstellern bleibt laut de Meo ohnehin gar keine andere Wahl, als aufs Elektroauto zu setzen. Wachstum werde es künftig nur noch in diesem Segment geben. Bis 2030 rechnet er mit einem durchschnittlichen Absatzplus von 25 Prozent pro Jahr. Bei Verbrennern dagegen stagniere der Markt.

In der Preisklasse über 40 000 Euro hat das Elektroauto bereits einen Marktanteil von 35 Prozent erreicht. Nun geht es darum, die Verkäufe auch im günstigeren Teil des Marktes anzukurbeln. Doch Europas Industrie muss sich sputen, wenn sie hier mithalten will. Sonst überrollen Chinas Hersteller Europa.

Deren Autos sind oft nicht nur billiger. Sondern der europäischen Konkurrenz ebenbürtig oder gar überlegen. Die EU hat inzwischen Strafzölle eingeführt, weil China seine eigenen Automarken subventioniere. Das verschafft Europas Autoindustrie etwas Luft im Kampf gegen die neue Konkurrenz.

Renaults Elektrotochter Ampere will dank einer schlankeren Produktion und der Entwicklung von effizienteren Batterien und Elektroantrieben den Preis ihrer Autos drücken. Sie hat laut dem Renault-Chef de Meo dabei einen wichtigen Vorteil: Ein Grossteil ihrer Zulieferer findet sich in einer Distanz von nur wenigen Hundert Kilometern.

Die Fabrik des japanischen Batterieherstellers AESC etwa ist kaum 500 Meter weit vom Werk in Douai entfernt. Sie wird derzeit im Eiltempo ausgebaut. Schon bald liefert sie mit einem elektrisch betriebenen Zug Batterien für 200 000 Elektroautos pro Jahr in die benachbarte Autofabrik.

Besser und schneller

Im Alleingang wird Renault die Umstellung auf die Elektromobilität allerdings nicht schaffen. Um gegen die chinesische Konkurrenz zu bestehen, wird das Unternehmen ironischerweise die Hilfe der Chinesen benötigen.

Chinesische Firmen sind inzwischen bei allen Elektroauto-Technologien führend. Die Chinesen sind aber nicht nur besser. Sondern auch schneller.

Das zeigt sich bei der geplanten Neuauflage des Renault-Klassikers Twingo, einem Kleinwagen, der nur 20 000 Euro kosten soll. Dieser kann dank den tiefen Strompreisen zwar in Frankreich produziert werden. Doch entwickelt wird er in China – innert nur gerade zwei Jahren und damit doppelt so schnell wie in Europa.

Das hohe Tempo der Chinesen hat mehrere Gründe. Einer davon: In China wird schlicht viel mehr gearbeitet als in Europa, wie ein Renault-Manager am Rand der Veranstaltung erklärt. Die Arbeitswoche dauere sechs Tage, «manchmal auch sieben», sagt der Mann. Gearbeitet werde oft von 9 bis 21 Uhr. Und er bestätigt: Geht es um den Verbrennungsmotor, ist Europas Autoindustrie in China noch immer ein Referenzpunkt. Beim Elektroauto hingegen «spricht dort niemand mehr von uns».

Technologietransfer nach Europa

Renault hat inzwischen ein 150-köpfiges französisch-chinesisches Team in China, das eine klare Aufgabe hat: Es soll von den lokalen Herstellern und Lieferanten lernen und die besten Technologien zurück nach Europa bringen.

Damit schliesst sich ein Kreis. Hundert Jahre ist es her, seit Ford die Autoherstellung mit dem Fliessband revolutionierte. Europäische Firmen wie Fiat, Citroën und Renault lernten daraus und imitierten ihre Konkurrenz dort, wo diese besser war. Das Gleiche machte China danach mit Europas Autoindustrie, wie der Renault-Chef de Meo erklärt. Der nächste Technologietransfer soll nun von China in den Westen laufen.

Nichts zeigt deutlicher, wie weit Europas Autoindustrie inzwischen im Rückstand liegt.

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