Dienstag, April 22

Der Berner Autor braucht für seine Romane und seine Inspiration einen Ort weitab von seinen Erfahrungen. Im hohen Norden wird er fündig. Hier spielt auch sein jüngstes Werk.

Allzu viele Schweizer Autoren gibt es nicht, die ihre Stoffe weitab von ihrer Herkunfts- und Lebensregion ansiedeln. Gewiss, wir waren mitunter in Japan (mit Adolf Muschg), auf Long Island (mit Max Frisch), in Paris (mit Alex Capus) oder in Istanbul (mit Angelika Overath), doch in Europas Norden scheinen sich Berner oder Zürcher Autoren selten zu begeben. Der 1954 im bernischen Ittigen geborene Thomas Röthlisberger bildet da eine erfrischende Ausnahme. Denn schon zum vierten Mal lässt er einen Roman in Finnland spielen, eine Folge, die bereits 1998 mit «Die Eiswanderung» einsetzte.

«Mitten im Wind» knüpft unmittelbar an «Steine zählen» an, jenen Roman, mit dem Röthlisberger 2022 für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Personen und Episoden aus diesem Buch kehren nun wieder, ohne dass dessen Kenntnis eine zwingende Voraussetzung wäre, und erneut tauchen wir in die oft menschenarme Landschaft Finnlands ein, sei es im Süden am Vehkajärvi-See, sei es im Nordosten nahe der russischen Grenze.

Melancholischer Grundton

Thomas Röthlisberger hat in einem Interview zu «Steine zählen» ausgeführt, wie sein Versuch, seinen Plot in die Schweiz, ins Emmental, zu verlagern, scheiterte. Die Geschichte habe ihn dann zu sehr an eine Art von Heimatliteratur erinnert, die ihm unangenehm sei.

Die «Finnlandisierung» der Geschichte schafft so von vornherein eine Distanzierung und sorgt für einen melancholischen Grundton, der auch «Mitten im Wind» durchzieht. Fast ausschliesslich haben wir es mit Figuren zu tun, die auf einschneidende Lebenszäsuren zurückblicken und darum bemüht sind, sich endlich mit ihrer Vergangenheit zu arrangieren. Es sind suchende Menschen, die mal zu scheitern drohen, mal gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, um wieder Fuss zu fassen.

Matti Nieminen zum Beispiel ist ein alter Mann, der – in der Gesellschaft eines Hundes, einer eigentümlichen Katze und mehrerer Schnapsflaschen – versucht, die Bruchstücke seines Lebens wieder zusammenzusetzen. Er muss verkraften, dass ihn seine Frau Märta nach vierzig Jahren verlassen und bei ihrer Schwester Marja Unterschlupf gefunden hat. Ihre Ehe stand ohnehin nicht unter besten Vorzeichen, denn der Vater ihres Sohnes – ein Geheimnis, das längst keines mehr ist – ist nicht Matti, sondern sein verhasster Widersacher Pekka, mit dem Märta, vorgebend, beim Pfarrer Singstunden zu besuchen, mehr als eine Nacht verbracht hat.

Thomas Röthlisberger versteht es geschickt, seine Figuren permanent mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Ruhe vor dieser scheint es nicht zu geben, vor allem seitdem Pekka wieder im Dorf auftaucht, der wegen Unterschlagung im Gefängnis sass und danach, womit auch immer, zu Geld gekommen ist. Es sind Schlüsselepisoden, die da – von Kapitel zu Kapitel aus wechselnden Perspektiven erzählt – immer wieder neu aufgefächert werden und deren geheime Hintergründe sich erst nach und nach zeigen.

Was etwa hat es mit den Schüssen auf sich, die einst auf Pekka abgefeuert worden sind? Wer steckt hinter den Umschlägen mit grossen Geldbeträgen, die der stets klamme, drogenabhängige Olli in seinem Briefkasten vorfindet? Und wird es Pekka gelingen, Spuren seines offensichtlich verschollenen Vaters Oskari zu finden, im Norden des Landes, wo der illegale Pelzhandel blüht und ein dubioser «Sales Manager» namens Erik Westlund die Fäden in der Hand hat?

Spielerische Parallelen

Vieles bleibt offen in diesem Buch, das mit gut gesetzten Dialogen arbeitet und ganz auf die Atmosphäre der abgeschiedenen Landstriche, Häuser und Gasthöfe baut. Elemente des Kriminalromans – Polizisten gehören auch zum Personal – werden geschickt integriert, ohne dass man «Mitten im Wind» diesem Genre zuschreiben könnte. Und Thomas Röthlisberger ist gewitzt genug, um mit der Omnipräsenz skandinavischer Settings in Filmen und Romanen zu spielen, zumal seine Figuren gut in diesen Szenarien aufgehoben wären.

Kein Wunder, dass er dies ganz am Ende in eine Art poetologischen Kommentar einbaut – wenn Matti sich ein dürftiges Abendessen mit aufgebratenen, gerade noch verzehrtauglichen Nudeln zubereitet und dazu die passende TV-Unterhaltung findet: «Jetzt lief ein Film mit einem schwedischen Schauspieler, den er kannte. Der hatte doch diesen berühmten Kommissar gespielt in den schwedischen Krimis. Wallander, genau. Aber jetzt hatte er die Rolle eines alleinstehenden Mannes inne. Der war ein alter, griesgrämiger Sack, der sich umbringen wollte, weil er nach dem Tod seiner Frau einsam war.» So findet Matti im Fernsehen wieder, was ihn selbst umtreibt, in Hannes Holms Film «Ein Mann namens Ove».

«Mitten im Wind» – das unnötigerweise gleich mit zwei Gattungsbezeichnungen, Geschichte und Roman, aufwartet – ist ein leises, etwas altmodisches Buch, das seine lädierten Helden psychologisch genau ausleuchtet und letztlich auch davon handelt, dass nichts wiedergutzumachen ist.

Thomas Röthlisberger: Mitten im Wind. Eine finnische Geschichte. Roman. Edition Bücherlese, Luzern 2024. 240 S., Fr. 31.90.

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