In Saudiarabien wurde der 33-Jährige wegen mangelnder Leistungsfähigkeit ausgemustert. Jetzt trifft er wieder, wird gefeiert und ist auf einer Mission.
Heimkehrer kennen das Gefühl, wenn plötzlich überall die Erinnerungen auftauchen. Wenn an fast jeder Ecke ein alter Freund lauert und an mancher auch ein alter Feind. Wenn sich Eindrücke zu einer Erzählung verdichten und sich der Kreis des Lebens schliesst, oder zumindest: der Kreis einer Karriere.
So wirkt es bei Neymar, 33, seit er vor gut einem Monat wieder zu seinem Jugendverein FC Santos wechselte. Alles wirkt wie durch ein Brennglas vergrössert, alles hat einen existenziellen Touch, alles bekommt Bedeutung und scheint zu fragen: Nur Zufall? Bloss ein flüchtiger Spaziergang über die Strasse der Nostalgie? Oder hat der Fussball doch noch etwas Grosses vor mit einem, der einmal auserkoren war, ihn zu dominieren?
Die Heimspiele wirken wie Prozessionen
Neymar da Silva Santos Júnior ist der brasilianische Spieler, dem «König» Pelé immer das Potenzial zur Thronfolge bescheinigte. Der dann viel von seinem epochalen Talent zeigte, aber nicht immer. Der Geld scheffelte wie kein Zweiter, aber zuletzt sogar in Saudiarabien vom Hof gejagt wurde.
Eine KI-produzierte Stimme des toten Pelé mahnte ihn daraufhin, es sei Zeit, nach Hause zu kommen: «Mein Thron ist verwaist, mein Trikot ist verstaut, noch ist niemand erschienen, der es tragen könnte», sagt dieser Pelé in einem Video des gemeinsamen Klubs Santos: «Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es dafür nur einen gibt. Einen Jungen, der hier aufwuchs und der hier so glücklich war wie nirgend sonst . . . Ich werde dir von oben zuschauen, mein Prinz.»
Monarchisch ging es weiter. Neymars Präsentation im alten Stadion Vila Belmiro war pompös, die Heimspiele seither haben den Charakter von Prozessionen. Nach seinem ersten Tor gegen einen Viertligisten im Regionalturnier des Gliedstaates São Paulo – die nationale Meisterschaft beginnt Ende März – reihte sich das gesamte Kader an der Seitenlinie auf, um sich von Neymar abklatschen zu lassen.
Auch wenn es nur ein Elfmeter war: Zwölf Jahre nach seinem 136. und letzten Tor hatte er wieder getroffen, und zwar gegen ein Team, das von Márcio Fernandes trainiert wurde, seinem ersten Coach aus Teenager-Tagen bei Santos. Wie von der Vorsehung arrangiert.
Der allgemeine Jubel an jenem Tag fungierte auch als Exorzismus. Denn anfangs schienen sich die schlimmsten Zweifel zu bestätigen, da käme ein Spieler, der nach seiner schweren Knieverletzung im Herbst 2023 «nicht mehr die Leistungen bringen kann, die wir von ihm gewohnt sind» – mit diesen Worten hatte ihn der Trainer Jorge Jesus von al-Hilal wegkomplimentiert. Auch in Brasilien verlor Neymar bei seinem ersten Startelfeinsatz zwei Dutzend Mal den Ball, jedes Dribbling und fast jeden Zweikampf.
Doch unerwartet schnell sandte er nachhaltige Lebenszeichen. Als er im Match bei Inter de Limeira einen Eckball direkt verwandelte, applaudierten ihm selbst die zuvor spottenden Gegnerfans, und im Viertelfinal gegen Bragantino traf er per Freistoss erstmals auch gegen einen Erstligisten. Bevor es heute Sonntag im Halbfinal zum Spitzenklub Corinthians geht, kommt Neymar auf drei Tore, drei Torvorlagen und schon wieder ziemlich viele Pinselstriche seiner Kreativität. Ausserdem hat er mit 550 Minuten in einem Monat Santos bereits mehr gespielt als in anderthalb Jahren Arabien.
O GOL HISTÓRICO DE NEYMAR JR! 🔟⚽ pic.twitter.com/gWhJxpGRv7
— Santos FC (@SantosFC) February 23, 2025
Abseits des Rasens inszeniert sich der Prinz volksnah. Nach Spielen bleibe er bei den Reportern stehen, heisst es, in Podcasts plaudert er über sich, den Fussball und das Leben. Viele Brasilianer hatten sich über die Jahre von ihm entfremdet, etwa als er im Gegenzug für persönliche Gefälligkeiten die Trommel für den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro rührte. Und so befindet sich Neymar jetzt auch auf einer Charmeoffensive.
Sogar beim Geld macht er Abstriche. Rund 3 Millionen Euro netto plus 75 Prozent der durch ihn generierten Zusatzeinnahmen soll er für das vorerst auf fünf Monate terminierte Engagement erhalten. In Riad waren es noch 100 Millionen pro Saison.
Das Nationalteam kann nicht auf ihn verzichten
Doch es geht ja ausnahmsweise um echten Sinn, um Katharsis und Neuanfang, en passant auch um die Rettung des Vaterlands, jedenfalls im Fussball – der in Brasilien immer noch so identitätsstiftend wirkt wie wenig anderes. Wenn nächstes Jahr die WM beginnt, wird der Rekordweltmeister fünf Endrunden am Stück vermasselt haben, eine längere Durststrecke hatte er nie. Und nachdem Neymar vielen Kritikern bei den letzten Turnieren als Sinnbild von substanzlosem Kitsch gegolten hatte, setzte sich inzwischen die Erkenntnis durch, dass es ohne den besten Torschützen der brasilianischen Länderspielgeschichte (79 Treffer in 128 Matches) erst recht nichts wird.
Seit dem Viertelfinalaus im Elfmeterschiessen gegen Kroatien bei der WM 2022 hat Brasilien nur 9 von 23 Länderspielen gewonnen. In der Südamerika-Qualifikation für 2026 liegt man nur auf Platz fünf, bei der Copa América 2025 war es wieder schon im Viertelfinale vorbei. Trotz Weltklasseangreifern wie Vinícius Júnior, Rodrygo Goes (beide Real Madrid) und Raphinha (FC Barcelona) bildet sich keine neue Hierarchie heraus. Mehr Zahlen: Seit Neymars Verletzung verlor Brasilien von 16 Spielen genauso viele wie bis dahin von den vergangenen 81 mit Neymar (je 4).
«Nicht nur Santos, auch Brasilien braucht dich wieder», sagt der KI-Pelé: «Rüste dich, uns die ‹Hexa› (den sechsten WM-Titel) zu holen.» Romário, dessen Tore das Land 1994 von der letzten ähnlich langen Baisse erlösten, findet: «Will Brasilien bei der nächsten WM eine Chance haben, dann nur mit Neymar.» Der Santos-Trainer Pedro Caixinha spricht gar von einer «Causa» seines Klubs: «Wir müssen alles dafür tun, dass er glücklich ist, die letzten Jahre vergisst und 2026 eine Causa für ganz Brasilien wird.»
Das grösste aller Fussballländer ist seiner Diva immer noch ausgeliefert. Ihren von gegnerischen Tritten und vielen Partys geschundenen Körper wieder in Wettkampfschwung zu bringen, wird da zum nationalen Projekt. Wie es heisst, trainiert er bislang ernsthaft und hält es mit dem Ausgang in Grenzen.
Der Nationaltrainer Dorival Júnior hat es registriert. Auch er hat eine Geschichte mit Neymar, er trainierte ihn bei Santos, als der Jungstar mit 18 schon heftige Allüren vor sich hertrug. Weil es Dorival in einem Match gegen Goianiense wagte, einen anderen Elfmeterschützen zu benennen, rebellierte Neymar offen gegen den Coach und provozierte letztlich seine Entlassung. Dennoch berief ihn Dorival am Donnerstag bei erster Gelegenheit wieder zur Seleção: «Wir brauchen nicht darüber zu reden, was Neymar repräsentiert», erklärte der Coach: «Wir haben auf ihn gewartet.»
Zum Wiedereinstieg begegnet Neymar gleich den nächsten Wegmarken seiner Vergangenheit. Erst kommt Kolumbien und damit die Reminiszenz an das böse Foul, das ihn im Viertelfinal aus der Heim-WM 2014 trat und Brasilien direkt ins 1:7-Desaster gegen Deutschland führte. Es folgt der südamerikanische Klassiker mit Argentinien, gegen das Neymar 2021 mit dem Copa-América-Finale in Rio de Janeiro sein bisher wohl wichtigstes Länderspiel verlor.
Den Schlusspfiff begoss er mit Tränen, umarmte dann aber seinen alten Barça-Kumpel Lionel Messi lang und innig. Es war Messis erster Titel mit der A-Nationalelf. «Der Fussball hat auf dich für diesen Moment gewartet», so gratulierte ihm Neymar, als er ihn später noch in der Kabine besuchte.
Wartet er auch auf ihn? Der vier Jahre jüngere Neymar ist heute so alt wie damals Messi, dessen Erlösung mit dem WM-Triumph 2022 vollendet werden sollte. «Argentinien verwandelte Messi in einen Ansporn, Weltmeister zu werden», so erinnert der Santos-Trainer Caixinha an eine Mannschaft auf Mission: «Brasilien sollte mit Neymar dasselbe tun.» Auf dass sich Kreis und Kitsch in aller Pracht schliessen.
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