Mittwoch, Januar 15

Eingeweihte meiden die Massen und reisen im Herbst und Winter nach Japan, wenn die Ginkgobäume leuchten und die Onsen dampfen.

Würde man das, was einem in den Sinn kommt, sobald man an Japan denkt, auf drei Begriffe herunterbrechen, wären es vielleicht diese: Kirschblüten, Kimonos und Sushi. Vielleicht würde man noch den Mount Fuji nennen, ganz sicher aber die Obstbäume. Ihre Hello-Kitty-farbenen Blüten lassen jedes Jahr im Frühling die Touristen kommen und die Wangen der Hotelbetreiber erröten. Die Zeit der Kirschblüte ist unangefochten die «Cherry on the Cake» in Sachen Tourismusattraktion. Dann wird es voll im Land der aufgehenden Sonne. Wer die Massen meiden will, besucht das Land in der Herbst- und Winterzeit.

Das Jahr neigte sich dem Ende zu, und ich landete in Tokio, dieser Stadt wie ein Paradoxon, nur schwer zu fassen, kaum zu begreifen, auch nicht von seinen Ausmassen. Ein Höllenschlund aus Hochhäusern, der jedoch nicht loderte, sondern blinkte und zuckte, strahlte und blendete. Nach drei Tagen, hin- und hergerissen zwischen «Wirklich?» und «Wow!», beschloss ich weiterzufahren. Die Maschine am Bahnhof saugte meinen Japan Rail Pass ein und spuckte ihn in Sekundenschnelle am anderen Ende der Schranke wieder aus. Das Ticket sollte mich in einer Woche über die Hauptinsel des Landes bringen. Zuerst nach Hiroshima, wo Schulklassen durch den Peace Memorial Park zogen und über das sprachen, was eigentlich unaussprechbar war. Über jenen Morgen des 6. August 1945, als die Amerikaner dem Land einen Krater in den Boden und in die Herzen rissen. Einer der wenigen Überlebenden des Atombombenangriffs: das eiserne Gerippe des grünen Doms am Ufer des Ota-Flusses.

Die alte Kaiserstadt Kyoto hingegen rettete ihre Schönheit: Weil der damalige US-Kriegsminister Henry L. Stimson im Herbst 1926 durch diese Gärten und Tempelanlagen gelustwandelt war, sorgte er im Zweiten Weltkrieg dafür, dass die Stadt von grösserem Bombardement verschont blieb.

Kunstinsel Naoshima

Es war Ende November, aber das Blau am Himmel tat so, als wüsste es von nichts. Genau wie die USA, die sich 2001 weigerten, das Kyoto-Protokoll zur Verringerung der Teibhausgasemissionen zu ratifizieren. Vier Jahre später trat es trotzdem in Kraft, seither verknüpft es den Namen Kyoto regelmässig mit dem Weltgeschehen. In den Gassen des Gion-Viertels, durch das Geishas mit weiss geschminkten Gesichtern huschen und wo abends warmes Licht die Holzhäuser erleuchtet, war der Gedanke an den Klimawandel so fern wie einem die jahrtausendealte Kultur. Rund 2000 Tempel und Schreine kann man allein in Kyoto besichtigen, kein Wunder, halten sie die Touristen auf Trab, schieben sich die Besucher im Gänsemarsch durch die Sehenswürdigkeiten, husch, husch.

Meine Füsse waren müde, aber die Shinkansen schnell. Die Hochgeschwindigkeitszüge rauschen mit rund 300 Kilometern pro Stunde von Westen nach Osten, vom Norden in den Süden. Ihre delfinartigen Schnauzen passten zu meiner nächsten Destination: der Kunstinsel Naoshima. Im Seto-Binnenmeer gelegen, erlangte das 3000-Einwohner-Inselchen Weltruhm, als der japanische Verleger und Kunstmäzen Tetsuhiko Fukutake Ende der 1980er Jahre dem Norden mit seinen rauchendende Raffinerien zeigte, dass es auch anders ging. Er kaufte den südlichen Teil und liess sich nicht lumpen: Seither setzt der japanische Stararchitekt Tadao Ando Museum um Museum auf die Insel. Im diesem Jahr soll der jüngste Bau des Pritzkerpreisträgers fertiggestellt werden.

Zwanzig Minuten brauchte die Fähre, um zum Hafen von Miyanoura überzusetzen. Auf dem Schiffsrumpf hüpften rote Punkte durch die Wellen. Die Polka-Dots der Künstlerin Yayoi Kusama sprangen einem auch beim Anleger entgegen, von einem begehbaren, überlebensgrossen Kürbis. Wenngleich klein, hat es die Insel in sich: Die Museen und Installationen sind eingebettet in eine bucklige Hügellandschaft. Ich lieh mir ein Velo und strampelte los zum Chichu Art Museum.

Bunkergleich ist das Gebäude in die Erde gebaut, eine Festung aus Beton, die das bewahrt, wofür sie entworfen worden ist: die Werke von James Turrell, Claude Monet und Walter De Maria. Selten wurde Kunst so sehr eins mit Architektur, selbst der Himmel wurde zum Artefakt: Ehrfürchtig schaute ich von einem schachtartigen Innenhof nach oben, als würde man das Firmament zum ersten Mal sehen. Ein fast sakraler Anblick. Auf dem Rückweg schlugen mir Regentropfen ins Gesicht, die ersten auf dieser Reise.

Badekleid, ja oder nein?

Zurück im Hotel beschloss ich, in einem Onsen die Kälte aus dem Körper zu schwitzen. Die heissen Quellen sprudeln im ganzen Land aus der Erde, sind Teil des Pazifischen Feuergürtels, dieses unberechenbaren Ring of Fire, der nichts mit Johnny Cash, aber regelmässig mit eruptierenden Vulkanen zu tun hat. «Brauche ich einen Badeanzug?», fragte ich ahnungslos und in Socken, meine Schuhe hatte ich beim Eingang deponiert. «Nein, nein», antwortete die Dame hinter der Rezeption und schaute für eine Millisekunde erschrocken drein, ohne vermutlich erschrocken dreinschauen zu wollen. Schliesslich galt es, das Gesicht zu wahren, immer und überall, beim Schlangestehen an der Bushaltestelle genauso wie bei der Konfrontation mit naiven Fragen.

Ein Meer aus unausgesprochenen Regeln lenkt das tägliche Miteinander, Benimm-Fallstricke, über die man als Europäer früher oder später nur stolpern konnte. Wie bloss, fragte man sich nach einer Woche, in der einem nichts als Anstand und Höflichkeit entgegengebracht wurde, wie um Himmels willen ertrugen die Japaner diese Welt da draussen, sobald sie auf Reisen gingen? Das Unwirsche, die Rohheit, das Egozentrische, das hinter den Landesgrenzen lauerte wie ein stacheltragender Feuerfisch, stets zum Angriff bereit?

Die Aussenbecken im Onsen dampften, drinnen hockten splitterfasernackte Frauen auf kleinen Schemeln und schäumten sich mit Seife ein. Anders als in der Sauna wurden die Körper nicht bedeckt, wenn man umherlief, von einem Becken zum anderen. Lauter Äpfel und Birnen auf Beinen, in allen möglichen Formen und Grössen. Und irgendwie, dachte ich, nachdem ich meine anfängliche Scham abgeschüttelt hatte, muss es Generationen von jungen Frauen guttun, so aufzuwachsen. Nicht ausschliesslich konfrontiert zu sein mit porenfrei gephotoshoppten Körpern, sondern mit dem echten Leben, mit Armen, Beinen, Bäuchen und Pos aus Fleisch und Blut, die mal weich, mal fest, mal rund, mal hager aussahen. Wo das Normlose die Norm war. Ich blickte in den nachtschwarzen Himmel mit seinen funkelnden Punkten, die dieses Mal nicht von Yayoi Kusama waren.

«Bitte nehmen Sie den von Ihnen reservierten Platz ein, sonst stiften Sie Verwirrung», ertönte es aus den Zuglautsprechern. Und dann noch dieser Satz, der Mahnung und Lebensweisheit zugleich war: «Sie sind verantwortlich für die Zeit.» Im Dorf Shirakawa-go, am Rande der Japanischen Alpen gelegen, ist sie stehengeblieben. Die Berge waren weiss gepudert, als hätte jemand eine Handvoll Mehl in die Luft gepustet und es auf die Gipfel niederrieseln lassen.

Schnee auf Reisfeldern

Zwischen Dezember und März ist das alte Bauerndorf jeweils von Schnee bedeckt. An jeder Hauswand lehnten Schneeschaufeln. Die reetgedeckten Gassho-Häuser trotzen seit mehr als zweihundert Jahren Wind und Wetter, unter ihren Dächern wurden einst Seidenraupen gezüchtet, vor den Türen wuchsen Maulbeerbäume. Für ein paar hundert Yen kann man einen Blick in einige der Unesco-geschützten Häuser werfen, über kalte Holzdielen tapsen und unter den Dachbalken historische Gerätschaften bestaunen.

Die Kälte war mir in die Knochen gekrochen, zog von den nassen Socken bis in die Fingerspitzen, die zitternd auf den Tee in der Speisekarte des kleinen Cafés zeigten. Über einer Feuerstelle brodelte Bohnensuppe in einem Kessel. «Suchen Sie sich bitte selbst eine Tasse aus», sagte die Inhaberin lächelnd, als sie meine Bestellung aufnahm. Ich scannte die Regale hinter dem Tresen, konnte mich nicht entscheiden. Die rosa geblümte oder doch die grüne Tasse mit dem Goldrand? Der Franzose neben mir fackelte nicht lange und zeigte auf ein blau-weiss gestreiftes Exemplar. Es war die grösste. Ergab Sinn. Und irgendwie auch nicht. In einem Land, in dem Details gross werden, sich Schönheit im Unperfekten findet und Zerbrochenes mit Gold gekittet wird, kam einem Kalkül fast wie Frevel vor. Vor dem Fenster fielen Flocken auf Reisfelder und verkündeten den nahenden Winter. Sobald der Schnee geschmolzen sein würde, würden die Kirschbäume ihre rosafarbenen Blüten wieder wie Konfetti übers Land verstreuen. Noch aber leuchteten die Ginkgobäume in einem warmen Gelb.

Reiseinfos

Anreise

Zum Beispiel mit Swiss täglich direkt von Zürich nach Tokio. Buchung und Informationen unter swiss.com.

Touranbieter

Mehrfach preisgekrönt, arbeiten die Spezialisten von Tourasia massgeschneiderte Reisen nach persönlichen Wünschen aus. Für alle, die Respekt vor einer Individualreise in Japan haben, hat der Schweizer Asienspezialist auch zahlreiche Gruppenreisen mit Tourguide im Angebot. Natürlich integriert Tourasia auf Wunsch auch den Japan Rail Pass in die Reise. Buchung und Informationen unter tourasia.ch.

Route

Tokio: Planen Sie mindestens drei Tage für diese spannende Metropole ein – entdecken Sie den historischen Kaiserpalast, die Shibuya Crossing, die meistfotografierte Fussgängerkreuzung der Welt, die Shoppingtempel im Stadtteil Shinjuku, die «Küchenstrasse» Kappabashi, in der ausschliesslich Porzellan und Küchenzubehör verkauft wird, oder den Tsukiji-Fischmarkt.

Kyoto: In der alten Kaiserstadt, die einst auch Hauptstadt von Japan war, kann es voll werden, aber dafür gibt es schliesslich gute Gründe: von den traditionellen Machiya-Holzhäusern über den Shinto-Schrein Fushimi Inari-Taisha, den Kaiserpalast, den buddhistischen Tempel Kiyomizu-dera, das Geisha-Viertel Gion, den Lebensmittelmarkt Nishiki bis hin zum idyllischen Philosophenweg. Es empfiehlt sich, die Tempel frühmorgens oder spätabends zu besuchen.

Naoshima: Die Kunstinsel liegt nur eine kurze Fährfahrt von Uno entfernt, Fahrkarten für die Fähre kann man direkt am Hafen kaufen. Auf der ganzen Insel befinden sich Kunstwerke sowie mehrere Museen für zeitgenössische Kunst. Verpassen Sie auf keinen Fall das beeindruckende Chichu Art Museum und das Benesse House Museum. Es empfiehlt sich dringend, Karten vorab zu reservieren. Mieten Sie sich ein E-Bike (Verleih direkt am Hafen), und radeln Sie über die Insel. Alternativ fahren Busse. Weit weniger bekannt, aber ebenfalls lohnenswert sind die Nachbarinseln Teshima und Inujima, auf denen es ebenfalls viel Kunst zu entdecken gibt.

Hiroshima: Der Name der Stadt ist unweigerlich mit der Katastrophe verbunden, die sich am 6. August 1945 ereignete, als die USA eine Atombombe über Hiroshima abwarfen und die Stadt dem Erdboden gleichmachten. Der Peace Memorial Park und das ebendort beheimatete Museum erinnern noch heute an die Tragödie. Obwohl die Wunde tief sitzt, ist Hiroshima heute eine moderne, pulsierende Stadt, deren Besuch sich lohnt.

Shirakawa-go: Das historische Dorf am Fusse des heiligen Berges Hakusan ist eines von dreien, die von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wurden. Es ist nur mit dem Bus erreichbar, wahlweise von Kanazawa oder Takayama aus. Die Holzhäuser sind im traditionellen Gassho-Zukuri-Stil erbaut, was übersetzt «zum Gebet gefaltete Hände» heisst. Einige Häuser dienen noch als Wohnhäuser, andere sind Museen. Unter den Dächern wurden Seidenraupen gezüchtet.

Takayama: Die Stadt gilt als Kronjuwel in den Japanischen Alpen. In den denkmalgeschützten Häusern befinden sich kleine Boutiquen, Cafés und Teehäuser. Die Stadt liegt am Miyagawa-Fluss und beherbergt auch viele Sake-Brauereien.

Dieser Artikel ist im Rahmen der «NZZaS»-Beilage «Reisen» erschienen, die von NZZ Content Creation erstellt wird.

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