Sonntag, Dezember 22

Einsteigen, bitte: Dieser Tage fahren in Deutschland Hunderttausende Menschen mit der Bahn nach Hause, um mit ihren Liebsten Weihnachten zu feiern. Die Reisen sind mit Vorfreude verbunden – und Wehmut. Und manchmal mit Chaos.

Es ist alles erledigt. Ich habe die Heizung heruntergedreht und das Modem ausgeschaltet, den Abfall weggebracht, meine Pflanzen gegossen. Es ist Donnerstagmorgen, die letzte Woche vor Weihnachten, und in einer Dreiviertelstunde geht mein Zug nach Hause, in ein Dorf in Niedersachsen. Wenn ich in meine Wohnung in Zürich zurückkomme, wird das neue Jahr schon ein paar Tage alt sein.

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Andere Leute bleiben über Weihnachten einfach dort, wo sie wohnen, und karren Tanne, Geschenke, Lebkuchen und Braten in die Wohnung. Ich hingegen fahre Zug. Auch meine Kollegen aus Zürich fahren an Weihnachten nach Hause, nach Bern, Genf oder ins Wallis. Doch das sind kurze Strecken, die Schweizerinnen und Schweizer fahren oft spontan nach Hause. Bei mir hingegen ist die Bedeutung des weihnachtlichen Heimfahrens eine andere.

In Deutschland sind die Distanzen gross, die Wege lang. Treffen mit der Familie sind seltener, wenn man anderswo wohnt – aber dafür umso wichtiger. So ist das Zugfahren an Weihnachten für viele Deutsche ein Stück Jahresendromantik. Verbunden mit Vorfreude, Wehmut und vielen Geschichten.

Seit ich mit Anfang zwanzig zu Hause ausgezogen bin, fahre ich jedes Jahr an Weihnachten nach Hause; nur wenige Male bin ich in Berlin geblieben, wo ich lange gelebt habe. Auch in Berlin merkt man, wie sehr das Heimfahren eine deutsche Tradition ist. Der Prenzlauer Berg, wo viele Studenten und Zugezogene wohnen, ist über die Feiertage wie ausgestorben.

Nur Amateure fahren jetzt ohne Reservierung Zug

Die Zugfahrten vor Weihnachten werden generalstabsmässig geplant. Dieses Jahr rechnet die Deutsche Bahn mit 450 000 Fahrgästen täglich und setzt längere Züge ein. Im Büro fragen wir Deutschen einander, wann denn unsere Züge fahren. Websites erklären uns, wie man günstige Tickets bucht. Meine Fahrkarte habe ich Mitte November gekauft, vor allem, um einen Sitzplatz zu reservieren. Nur Amateure fahren jetzt ohne Reservierung. Oder Leute, die den Nervenkitzel suchen.

Um 6 Uhr 45 bin ich am Hauptbahnhof in Zürich und kaufe einen Flat White, das mache ich immer, wenn ich Bahn fahre. Eine Viertelstunde später setzt sich mein IC in Bewegung. Pendler ziehen ihren Laptop aus der Tasche und arbeiten. In Basel steige ich in den ICE um, unser erster Halt ist Freiburg im Breisgau, die Studentenstadt. Junge Leute steigen zu, die ihre Trekking-Rucksäcke und Taschen voller Geschenke in die Gepäckablage wuchten. Deutschland fährt heim und bringt etwas mit.

Meine Fahrt dauert neun Stunden. Nur die Hälfte der Plätze ist belegt, ich bin die Frühschicht, wenn man so will, ehe sich in den kommenden Tagen gefühlt die halbe Republik neu sortiert. Wir fahren an Feldern entlang, an Industrieanlagen, durch hügelige Landschaften. Draussen ist es grau, es regnet.

Man wird nachdenklich, wenn man lange Zug fährt, was auch daran liegt, dass diese Fahrten in die Heimat nicht immer einfach sind. Wenn man ankommt, wird man automatisch wieder Kind. Mütter fragen ihre erwachsenen Töchter, ob sie auch warm genug angezogen seien, und Onkel Heinz will zum drölfzigsten Mal wissen, warum sein Neffe noch immer keine Freundin hat.

Fahrten ins Ungewisse

Um 10 Uhr 39 schreibe ich meiner Mutter auf Whatsapp: «Hab übrigens Verspätung.» Kurz nach Mannheim heisst es, wir müssten wegen einer Reparatur an der Oberleitung einen Umweg fahren. Macht 45 Minuten Verspätung, ich werde meinen Anschlusszug in Bremen verpassen.

Reisen mit der Deutschen Bahn sind ein Risiko. Stellwerkstörungen, Personalausfall, verspätete Bereitstellung eines Zuges, Kühe auf dem Gleis: Die Liste der Gründe für Verzögerungen ist endlos, wer Pech hat, kommt zu spät zur Bescherung. Und alle hoffen: bitte diesmal nicht.

Ich weiss noch, wie sich vergangenes Jahr in Mannheim ein Passagier in letzter Sekunde in den Zug zwängte, obwohl sich die Türen schon fast geschlossen hatten. Gab gleich eine Standpauke vom Schaffner. Er hätte die Sensoren der Tür beschädigen und so den ganzen Zug lahmlegen können. Daraufhin schaukelte sich die Sache hoch, und irgendwann schrien sich die beiden an. Ein Weihnachtskrach auf Schienen.

Gesucht: ein Ort zum Überwintern

Nachdem wir Münster verlassen haben, wird die Gegend für mich vertrauter. Wir streifen alte Bauernhäuser mit Fachwerk und Silos. An Weihnachten sei man verletzlicher als sonst, sagen Experten. In Familien kommt es oft zu Streit, weil die Erwartungen so hoch sind. Das Fest muss einfach richtig, richtig schön werden.

Letztlich suchen alle das Gleiche: einen Ort, an dem sie gut für ein paar Tage überwintern können. Wo es Menschen gibt, die einen dafür lieben, dass es einen gibt. Die mit dem Essen warten und sich freuen, wenn man kommt. Weihnachten bedeutet aber auch: Schon wieder ist ein Jahr zu Ende. Man ahnt daher vor allem zu dieser Zeit, wie fragil das alles ist, das Glück, die Familie und das Leben. Und manchmal eben auch die Zugfahrt dahin, an diesen Ort.

Dieses Jahr werden laut einer Umfrage sieben Prozent der Menschen in Deutschland Weihnachten allein verbringen, unter den Senioren sind es elf Prozent. «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben», heisst es in Rainer Maria Rilkes Gedicht «Herbsttag». Vor Heiligabend könnte man sagen: Wer jetzt nicht Zug fährt, sollte für die kommenden Tage einen guten Plan haben.

Jede Familie feiert unterschiedlich

Im Zug spüre ich eine seltsame Stimmung. Es ist ein Gefühl von Vorfreude auf ein paar gemütliche Tage, aber auch Wehmut und ein leiser Abschiedsschmerz. Abends, wenn es draussen schwarz ist, leuchten im ICE orangefarbene Streifen an den Gepäckablagen über den Sitzen. Ich sitze immer im Ruhebereich, aber wenn man sich weihnachtlich fühlt, kann man meinen, es sei stiller als sonst.

In Bremen muss ich umsteigen, jetzt nur noch in die S-Bahn Richtung Nordwesten. Hier sprechen die Leute, wie ich es von früher kenne, sie sagen «Moin» und «jo». Ich blicke aus dem Fenster und versuche, einen Blick in die Häuser zu werfen, an denen wir vorbeifahren. Für eine Sekunde schaue ich in das Leben der anderen, sehe Regalwände und Stehlampen. Für ein paar Tage machen Millionen von Menschen im weitesten Sinne das Gleiche. Und doch feiert jede Familie unterschiedlich, bedeutet das Fest für jeden etwas anderes. Eigentlich verrückt.

Um 17 Uhr schickt meine Mutter ein Foto vom Feuer in unserem Ofen, wenige Minuten später steige ich aus dem Zug aus. Ich ziehe meinen ratternden Rollkoffer hinter mir her. Der Bus, der mich nach Hause bringt, wartet schon.

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