Am 8. Mai kapitulierte Hitler-Deutschland offiziell. Doch bis Ende Mai fanden im letzten Regierungssitz noch Kabinettssitzungen statt. Gerhard Paul erzählt die Geschichte des «Dritten Reiches» über das Kriegsende hinaus.
Ein Zusammenbruch ist nie das Ende. Wenn in diesen Tagen an das Kriegsende in Europa vor achtzig Jahren erinnert wird, dann ist darüber weithin in Vergessenheit geraten, dass Hitlers Nachfolger als Staatsoberhaupt, Grossadmiral Karl Dönitz, mit seiner geschäftsführenden Regierung vom letzten Regierungssitz in der Marineschule in Flensburg-Mürwik aus und mit Kabinettssitzungen auf Schloss Glücksburg das «Dritte Reich» noch um einige Tage bis zum 23. Mai 1945 verlängert hat.
Diese 23 Tage der Regierung Dönitz zählen zu den Absurditäten der Geschichte des «Dritten Reiches». Warum hielten die Briten überhaupt so lange an Hitlers Nachfolger fest? Der britische Premierminister Winston Churchill hat die Regierung Dönitz damals als einen Stock bezeichnet, mit dem in einem Ameisenhaufen herumgestochert werden könne. Auch den noch weitgehend von Hitler bestimmten Kabinettsmitgliedern scheint die Surrealität ihres Wirkens bewusst gewesen zu sein.
Albert Speer bat am 15. Mai um seine Entlassung, die ihm Reichskanzler Lutz Graf Schwerin von Krosigk verwehrte. Am 17. Mai waren die sowjetischen Vertreter bei der Alliierten Kontrollkommission beim Oberkommando der Wehrmacht in Flensburg eingetroffen. Am Tag danach verstärkte sich die sowjetische Kritik an der Dönitz-Regierung. Aufgrund der Übersichtlichkeit der Traktanden reichte es den Mitgliedern der geschäftsführenden Regierung Dönitz, wenn sie am Vormittag zu den Kabinettssitzungen zusammentrafen.
Inszenierung
Die Zahl der Memoranden stand in umgekehrtem Verhältnis zur politischen Relevanz der Themen. Die beträchtlichen Schnapsvorräte, die Ernährungsminister Backe aus Berlin gerettet hatte, führten dazu, dass ein grosser Teil des Unterstützungspersonals daueralkoholisiert war. Am 23. Mai war es damit vorbei. Grossadmiral Dönitz, Generaloberst Alfred Jodl und Reichsminister Albert Speer wurden von alliierten Kriegsberichterstattern verhaftet und gegen Mittag zur Pressevorführung in den Hinterhof des Flensburger Polizeipräsidiums geführt.
Der letzte Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Generaladmiral von Friedeburg, hatte Selbstmord begangen, der flüchtige Reichsführer SS, Heinrich Himmler, ebenfalls. Die «New York Times» schrieb am Folgetag: «The Third Reich died today». Da der Hof des Polizeipräsidiums zu klein war, wurde für die herbeigerufenen Medienvertreter die Verhaftung mehrfach nachgestellt. Speer und Dönitz mussten sich Leibesvisitationen unterziehen und waren entsetzt, dass sie nicht als «Ehrenmänner» nach der Genfer Konvention behandelt wurden. Das Ende des «Dritten Reiches» war auch Teil einer Medieninszenierung.
Gerhard Paul hat in seinem Buch «Mai 1945: Das absurde Ende des ‹Dritten Reiches›» mit detektivischem Gespür und Sinn für skurrile Details die letzte Etappe des «Dritten Reiches» beschrieben. Er bezeichnet sein Werk zu Recht als «Untergangsstück». Durch die Veröffentlichung des Tagebuchs des Dönitz-Adjutanten Walter Lüdde-Neurath sind wir über diesen Zeitraum grundsätzlich gut informiert.
Selbstmordwelle
Gerhard Paul hat die Orte des Geschehens aufgesucht und die Begebenheiten zwischen der Evakuierung der Reichsregierung am 21. April 1945 aus Berlin nach Schleswig-Holstein und der Festnahme der Regierung Dönitz und der Spitzen der Wehrmacht am 23. Mai 1945 minuziös nachgezeichnet. Er verbindet dabei die Perspektive des alliierten Besatzungsregimes («von oben») mit der Alltagssicht der geschlagenen Deutschen («von unten»).
Es gab zu keiner Zeit so viele Selbstmorde in Deutschland wie im Mai 1945. Die Deutschen erwiesen sich aber in der Not auch als erfinderisch. Das zeigt die Geschichte des Flensburger Reichssenders. In der Stadt an der Förde gab es kein eigenes Aufnahmestudio. Deshalb wich man auf einen Übertragungswagen der Kriegsmarine aus, der im Hof des damaligen Postgebäudes stand. Von diesem Sender aus wurden Wehrmachtsberichte, Nachrichten und Musiksendungen übertragen.
Bis zum 5. Mai waren die Sender in den von den Deutschen besetzten Gebieten in Oslo und Kopenhagen an den Reichssender Flensburg angeschlossen. Auch die Geschichte von Beate Uhse, die bis zum Kriegsende als Pilotin der Luftwaffe gewirkt und sich nie vom Nationalsozialismus distanziert hatte, darf nicht fehlen. Am 30. April 1945, als sich Hitler das Leben nahm, hatte sie mit ihrer Maschine in Leck in Nordfriesland aufgesetzt und war wenige Tage später von britischen Bodentruppen, die den Flugplatz besetzten, gefangen genommen worden.
Unter Hitlers Porträt
Die Granden des «Dritten Reiches» kamen allerdings lange nicht zur Einsicht. Als der letzte Chef der Marineschule, der U-Boot-Kommandant und Ritterkreuzträger Wolfgang Lüth, in der Nacht vom 13. zum 14. Mai auf dem Gelände der Marineschule von einem Wachsoldaten erschossen wurde, weil er die Parole des Tages nicht aufsagen konnte, ordnete Grossadmiral Dönitz ein Staatsbegräbnis an. Er erwirkte beim britischen Stadtkommandanten die Genehmigung für eine formelle Trauerfeier. Als Dönitz vom Pult der Aula der Marineschule vor den einbestellten Kameraden unter dem Porträt Adolf Hitlers am 16. Mai 1945 Wolfgang Lüth als Vorbild für künftige Generationen pries, war wohl vielen der Versammelten die Skurrilität der Zeremonie bewusst.
Es ist zum Glück anders gekommen, als Dönitz prophezeite. Der Mai 1945 war Ende und Anfang. Die Übergänge waren fliessend. In jenen «Tagen des Überlebens» wurden einige der sichtbaren Überbleibsel des «Dritten Reiches» rasch abgeschüttelt. Die Deutschen erwiesen sich als Meister der Improvisation. Vieles allerdings blieb unbewusst erhalten und geriet absichtsvoll in Vergessenheit. Es ist das Verdienst von Gerhard Paul, einige dieser Untergangsgeschichten aus dem Vergessen wieder hervorgeholt zu haben.
Gerhard Paul: Mai 1945: Das absurde Ende des «Dritten Reiches». Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand. WBG-Theiss-Verlag, Freiburg im Breisgau 2025. 336 S., Fr. 41.90.