Dienstag, April 22

Wer mehr Rendite will, muss auch ein höheres Risiko in Kauf nehmen, besagt die Finanzmarkttheorie. Doch empirische Untersuchungen belegen das Gegenteil. The Market zeigt, was es mit dem Paradoxon auf sich hat und welche Titel in der jetzt stürmischen Zeit besonders attraktiv sein könnten.

«Kaufen Sie Aktien, nehmen Sie Schlaftabletten, und schauen Sie die Papiere nicht mehr an. Nach vielen Jahren werden Sie sehen: Sie sind reich.»
André Kostolany, Spekulant und Börsenlegende (1906–1999)

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

Themarket.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Kaum fiel der Zollhammer von US-Präsident Donald Trump Anfang des Monats, stieg die Nervosität an den Märkten, und die Kurse rauschten in den Keller. Mit dem Aussetzen der reziproken Zölle für neunzig Tage ging es an der Börse wieder aufwärts. Doch: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Und die Anzeichen für einen Abschwung mehren sich auch ohne ausgemachten Handelsstreit – zumindest in den USA.

Ablesen liess sich die Panik der Anleger etwa am Vix. Der Index lag am 8. April bei 52,3% – höher stand er nur zu Coronazeiten 2020 und in der Finanzkrise 2008. Das Angstbarometer der Chicagoer Terminbörse, für das die Daten bis 1990 zurückreichen, misst die Volatilität des US-Aktienindex S&P 500. In diesem Fall die erwartete Schwankungsbreite in den nächsten dreissig Tagen, die aus Optionspreisen abgeleitet wird und deshalb auch implizite Volatilität heisst. Konkret bedeutete der historisch aussergewöhnlich hohe Wert am vorvergangenen Dienstag, dass die Marktteilnehmer bei einem seinerzeitigen Schlussstand von 4983 Zählern mit einem Auf und Ab des S&P 500 zwischen 4235 und 5730 Punkten rechneten.

Es war logischerweise kein reiner US-Schock. In der Schweiz schnellte das Pendant für den eidgenössischen Leitindex SMI, der VSMI, bis auf 34,5% hoch (langjähriger Durchschnitt: 18,3%), so nervös waren die Anleger. Der VDax-new in Deutschland zog auf 44,6% an (historischer Mittelwert: 23,5%), bevor Trump die länderspezifischen Zölle erst einmal aussetzte. Der VStoxx, das Gegenstück zum Euro Stoxx 50, schoss sogar auf 46,7% (Mittel: 23,7%) hoch. Mittlerweile hat sich die Lage etwas entspannt – vorerst. Doch wäre es in solch stürmischen und von Unsicherheit geprägten Zeiten wie heute nicht schön, Aktien im Depot zu haben, mit denen man ruhig schlafen kann? The Market hat sie anhand der Volatilität (und anderer Risikokriterien) identifiziert.

Verkehrte Welt bei Risiko und Rendite

Auf der Suche nach risikoarmen Aktien kommt in unserem Fall nicht die implizierte Volatilität zum Einsatz, sondern vielmehr die historische, die sich auf die Kurse der Vergangenheit und nicht die Erwartungen der Marktteilnehmer bezieht. Förderlich ist dabei, die Volatilität ist im Zeitverlauf relativ stabil. Oder anders ausgedrückt: Aktien mit derzeit niedriger Volatilität dürften auch in Zukunft weniger stark schwanken.

Oft wird Volatilität mit Risiko gleichgesetzt. Wer ein höheres Risiko eingeht, der erhält in der Theorie auch eine höhere Rendite. Das ist die Quintessenz des Capital Asset Pricing Model (CAPM), das in den Sechzigerjahren von William Sharpe und anderen Wirtschaftswissenschaftlern entwickelt wurde. Allerdings ist die Gesetzmässigkeit – so logisch sie auch sein mag – allem Anschein nach gar nicht gegeben. Finanzökonom Robert Haugen fand nämlich keine zehn Jahre später heraus, dass Aktien mit geringerem Risiko entgegen der vorherrschenden Theorie eine höhere Rendite abwerfen.

Widerspruch durch Anlegerverhalten begründet

Drei Erklärungsansätze haben sich für das Volatilitätsanomalie getaufte Phänomen über die Zeit herauskristallisiert.

  1. Der Lotterie-Effekt: Aktien mit hoher Volatilität versprechen theoretisch einen höheren Gewinn, weshalb Anleger bereit sind, eine hohe Prämie zu bezahlen, was zu einer Überbewertung der Titel führen kann. Sie sind zudem aufregend und schlagzeilenträchtig, was für Anleger einen besonderen Reiz zu haben scheint.
  2. Selbstüberschätzung und blindes Vertrauen auf den Grundsatz höherer Ertrag für höheres Risiko: Investoren ersetzen Ertragsschätzungen durch Risikoprognosen und treffen so falsche Entscheidungen.
  3. Grenzen der Arbitrage: Der Grossteil der Investmentfonds ist in seiner Verteilung auf verschiedene Anlageklassen und der Titelselektion an einen Vergleichsindex gebunden. Dies führt dazu, dass trotz der Kenntnisse über die Anomalie diese nicht ausgenutzt wird und im Umkehrschluss sogar verstärkt werden kann.

Die Autoren Pim van Vliet und Jan de Koning nennen es hingegen eine Frage der Perspektive. Professionelle Anleger wie Fondsmanager interessieren sich «eher für das Risiko von Portfolios im Vergleich zum Gesamtmarkt», schreiben sie in ihrem Buch «High Returns From Low Risk». Schliesslich orientieren sich Vermögensverwalter, und nicht selten ihr Gehalt, daran, ob sie die Benchmark schlagen oder nicht.

Dazu ein simples Beispiel: Wenn eine Aktie jedes Jahr ein Plus von 10% verzeichnet, während der Markt zwischen –40 und +60% Rendite schwankt, dann entwickelt sich die Aktie aus relativer Sicht einmal 50 Prozentpunkte schlechter als der Markt, einmal 50 Prozentpunkte besser. Aus relativer Sicht ist sie also sehr risikoreich. Aus absoluter Sicht weist sie hingegen gar kein Risiko auf, denn das Plus liegt ohne jegliche Volatilität jedes Jahr bei 10%.

Rückblickend beeindruckende Erfolgsbilanz

Das Ganze ist nicht nur graue Theorie. Van Vliet testete die Strategie mit geringerem Risiko für den US-Markt über den Zeitraum von 1929 bis 2014. Das Portfolio mit hundert Aktien mit der niedrigsten Volatilität rentierte mit 10,2% pro Jahr, die hundert Titel mit der höchsten Schwankungsbreite mit nur 6,4%. Wer zu Beginn also 100 $ investiert und jeglichen Ertrag stets reinvestiert hätte, der hätte mit den risikoarmen Aktien nach 86 Jahren 395ʼ000 $ zu Buche stehen gehabt, während das Depot mit den risikoreichen Titeln auf nur 21ʼ000 $ kam. Jetzt spielen hier sicher der Startpunkt der Weltwirtschaftskrise und der Zinseszinseffekt eine Rolle, der gravierende Unterschied ist jedoch nicht von der Hand zu weisen.

Damit nicht genug, Van Vliet berücksichtigte in einem weiteren Schritt noch die Dividendenrendite und Aktienrückkäufe sowie das Kursmomentum (Kursveränderung über zwölf Monate). Fertig war ein Ansatz, der im Backtesting eine Wertsteigerung auf mehr als 21 Mio. $ erfahren hat – 53-mal so viel wie das reine Low-Volatility-Portfolio.

Indexfonds führen ein Schattendasein

Kein Wunder, dass auch Fondsanbieter den Ansatz aufgegriffen haben. «Es ist jedoch ein Nischenthema und vor allem eines für institutionelle Investoren, da Privatanleger schon allein mit dem Begriff Volatilität nicht viel anfangen können», sagt ein Branchenkenner. Entsprechend gering sind die Zahl der Indexfonds (ETF) und ihr Fondsvolumen. In Europa zugelassene Low- oder Minimum-Volatility-ETF bringen es in Summe auf nicht einmal 10 Mrd. €, wie Daten der Plattformen Morningstar und JustETF ergeben. Deutsche Anleger haben gemäss den Zahlen des Branchenverbands BVI gerade einmal 1,7 Mrd. € in die speziellen Produkte investiert.

Der älteste Indexfonds ist der SPDR S&P 500 Low Volatility (ISIN: IE00B802KR88), der im Oktober 2012 aufgelegt wurde. Der iShares Edge MSCI World Minimum Volatility (IE00B8FHGS14) folgte knapp zwei Monate später. Er ist heute mit rund 3,7 Mrd. € Fondsvolumen über alle Anteilsklassen der grösste in Europa zugelassene ETF dieser Art. Sein Auswahlkriterium ist aber nicht nur eine geringe Volatilität, sondern auch ein niedriges Beta (Kursbewegung im Verhältnis zum Markt) sowie «eine reduzierte Exposition gegenüber Aktien mit hoher Marktkapitalisierung und eine Präferenz für Aktien mit geringem idiosynkratischem Risiko», heisst es auf Anfrage bei BlackRock.

Wettbewerber Invesco setzt mit einem ETF auf die hundert am wenigsten volatilen Aktien im S&P 500. Der Invesco S&P 500 Low Volatility ETF (IE00BKW9SX35) hat seit seiner Auflage Mitte 2021 mal besser und mal schlechter abgeschnitten als alle Titel aus dem S&P 500. Im vergangenen Jahr hat man mit ihm etwa einen Bogen um die so dominanten «Magnificent Seven» gemacht. 2022 und 2023 sind Anleger mit den weniger sprunghaften Aktien wiederum gut gefahren.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen, die The Market vor zwei Jahren gewonnen hat: Es kommt auf die Marktphase an, und die spricht derzeit für die Strategie. «Viele Anleger suchen nach stabilem und nachhaltigem Ertrag, besonders in volatilen Phasen, wie wir sie heute erleben», sagt Ulrich Cord, Leiter Wholesale & ETF bei Invesco Deutschland. Die Investmentgesellschaft kombiniert in einigen Fällen die niedrige Volatilität auch noch mit der Dividendenrendite, ähnlich, wie Van Vliet es durchexerziert hat. Der Volatilitätsfilter sei dabei essenziell. Schliesslich weisen gerade Aktien, deren Kurs in der Vergangenheit stark gefallen ist, eine hohe Dividendenrendite auf. «Die ETF sorgen dafür, dass Unternehmen enthalten sind, die eine verhältnismässig hohe Dividende mit niedrigen Aktienkursschwankungen haben», so Cord.

Für die Aktienauswahl von The Market kommen die Volatilität (260 Tage), der Betafaktor (drei Jahre), die Dividendenrendite (auf Basis der angekündigten oder gezahlten Gewinnausschüttung 2025) und das Momentum (Total Return ein Jahr) zum Tragen.

Die besten risikoarmen Einzeltitel aus dem Dax

Es ist kein Zufall, dass die Aktien von Allianz 📈 in dem Ranking ganz oben auftauchen. Der Versicherer hat die mit Abstand niedrigste Volatilität im Dax. Aber er ist auch der absolut betrachtet grösste Dividendenzahler des deutschen Leitindex. So schüttet er Mitte Mai insgesamt stolze 5,9 Mrd. € an die Anteilseigner aus, 15.40 € je Titel.

Auf den Plätzen zwei und drei folgen Deutsche Telekom 📈 und Deutsche Börse 📈. Beide Titel bieten aufgrund ihres Geschäftsmodells eine gewisse Stabilität in Krisenzeiten, wie The Market Ende März geschrieben hat. Die Telekom erzielt zwei Drittel ihres Gewinns mit der Tochter T-Mobile US. Die Deutsche Börse dürfte von einem höheren Handelsvolumen in unruhigen Zeiten besonders profitieren, weshalb die Valoren auch einen guten Lauf haben und im jüngsten Momentum Screen weit vorne liegen. Analysten rechnen im Rahmen der Zahlen zum ersten Quartal (28. April) mit einer Bestätigung der Prognose für 2025, halten eine Anhebung im Laufe des Jahres aber für durchaus denkbar.

Munich Re 📈 gehört ebenfalls zu den krisenfesten Titeln und hat darüber hinaus die Dividende mehr als ein Vierteljahrhundert nicht gekürzt. Der Rückversicherer ist damit ein besonders verlässlicher Dividendenzahler. Trotz einer erheblichen Grossschadenbelastung erwartet der Markt für das erste Quartal ein recht ordentliches Ergebnis, das die Münchner am 13. Mai bekanntgeben werden.

Der Versorger E.On 📈 ist ein Kandidat, der nicht nur Trumps Zöllen trotzen sollte, sondern auch ein Gewinner der deutschen Schuldenpolitik sein dürfte. «Versorger sind einerseits ein Ersatz für festverzinsliche Papiere, aber mit dem Vorteil, dass die Dividende voraussichtlich erhöht wird bzw. die Rendite der Investitionen in Zukunft steigt», schreibt Vermögensverwalter Jens Ehrhardt in seiner Kolumne bei The Market. Bei E.On dürfte vor allem das Energienetzgeschäft zu einem höheren Gewinn führen.

Die Top-Titel aus dem MDax

Besonders stabile Aktien aus der zweiten deutschen Reihe sind die MDax-Unternehmen Freenet 📈, Scout24 📈, Gea 📈, RTL 📈 und Talanx 📈. Letztgenannter Versicherer ist einer der elf Favoriten von The Market für 2025. Der Mobilfunker Freenet ist in der Auswahl der stärksten Aktien der Welt als Nachzügler positiv aufgefallen und gehörte im Januar auch zu den besonders günstigen Qualitätstiteln von The Market.

Das Digitalunternehmen Scout24 dürfte ebenso wie der Industriekonzern Gea weitgehend immun gegen Trumps Protektionismus sein. Gea steht zudem auf der Watchlist von The Market. Die Aktien des Medienkonzerns RTL wiederum bieten eine der höchsten Dividendenrenditen im deutschen Anlageuniversum. Sie liegt bei 7,2%.

Die besten Valoren mit niedriger Volatilität aus dem SLI

Aus dem Swiss Leader Index (SLI) haben sich die Valoren des Telekommunikationsunternehmens Swisscom 📈 und des Aufzug- und Fahrtreppenhersteller Schindler 📈 nach Trumps Schockwelle mit am besten gehalten. Das passt zum Low-Volatility-Ansatz.

Der Versicherer Zurich 📈 bietet eine hohe Dividende, während der Lebensversicherungskonzern Swiss Life 📈 und der Pharmariese Novartis 📈 zu den besonders verlässlichen Dividendenzahlern in der Schweiz gehören.

Letztlich sind die genannten Aktien auch alle eine Wette auf einen Bärenmarkt. Denn in einem solchen Umfeld glänzen die defensiven Titel besonders.

Übrigens: Die Kennzahl «Volatilität (260 Tage)» finden Sie zur Orientierung ebenfalls in den Tabellen des Momentum Screen.

Der Autor hält Aktien der Deutschen Börse.

Exit mobile version