Der Vagusnerv ist eine der wichtigsten vegetativen Verbindungen zwischen Körper und Hirn. Ihn mit Tricks zu stimulieren, gilt neuerdings als Anti-Stress-Programm für jedermann. Oder versprechen Influencer und Coaches zu viel?

Manchmal ist Wissenschaft ganz alltagsnah. Zum Beispiel fragen sich Forscher, was eine aufs Gesicht gelegte Kältemaske bewirkt. Wie gut hilft sie, nach einem stressigen Tag runterzukommen? Lässt sich, wenn man die Kühlkompresse schon vorbeugend nutzt, eine schwierige Prüfung besser bestehen? Oder kann man dann der erwarteten Standpauke des Chefs entspannter begegnen?

«Einfache alltagstaugliche Mittel, um solche Stresssituationen zu meistern, wären natürlich sehr willkommen», sagt der Gesundheitspsychologe Nicolas Rohleder von der Uni Erlangen-Nürnberg. Rohleder erforscht die psychobiologischen Entstehungsbedingungen und Verarbeitungsmöglichkeiten von Stress. Gemeinsam mit seinen Kollegen hatte er darum vor einiger Zeit ein Experiment ersonnen, das den kühlenden Gelmasken aus dem Kosmetikhandel einen forscherischen Sinn abgewinnt.

Kernbotschaft der im Fachblatt «Scientific Reports» veröffentlichten Studie: Schon eine zweiminütige Kälteanwendung über Stirn, Wangen und Kinn könnte akuten Stress bewältigen helfen – und damit womöglich sogar chronischen Krankheiten vorbeugen.

In ihrer Untersuchung setzten die Forscher junge gesunde Erwachsene systematisch unter Stress: In mehreren Runden sollten sie Mathe-Aufgaben lösen – um zwischendurch das Feedback zu erhalten, wie mies sie angeblich abschnitten und warum eine grössere Anstrengung gefordert sei. Dabei liess sich beobachten, dass bei jenen Probanden, die vor den Mathe-Runden jeweils zwei Minuten eine Kältemaske trugen, nicht nur das Herz ruhiger schlug. Auch die in Speichelproben gemessenen Werte des Stresshormons Cortisol fielen deutlich niedriger aus.

Die Hypothese der Forscher: Die Kältepackung auf dem Gesicht aktiviert über neuronale Verschaltungen im Hirnstamm einen Teil des vegetativen Nervensystems, den sogenannten Vagusnerv. Dadurch verringere sich die Stressantwort des Körpers auf psychosoziale Belastungen.

In der Ratgeberliteratur gilt der Vagus als innerer Therapeut

Der Vagusnerv interessiert längst nicht nur Stressforscher und Neuropsychologen – sondern auch Gesundheitscoachs und Influencer in den sozialen Netzwerken. Denn der Vagus ist eine der wichtigsten vegetativen Signalbahnen und verbindet das Gehirn mit einem Grossteil der inneren Organe. Bei vielen automatisch ablaufenden Körperfunktionen wie Atmung und Kreislauf spielt er hinein. Mittlerweile preist ihn die Ratgeberliteratur geradezu als «Selbstheilungsnerv» und «inneren Therapeuten». Doch stimmt das?

Wenn man betrachtet, was bei Stress im Körper passiert, klingt das zunächst nach einer logischen Schlussfolgerung: Ganz automatisch steigen in Belastungssituationen die Stresshormonspiegel, zugleich erhöhen sich Blutdruck und Puls, innere Erregung und Aufmerksamkeit. Solche Anpassungen seien für den Organismus unabdingbar und völlig normal, stellt Rohleder klar. Entscheidend sei, dass der Körper immer wieder in Ruhe- und Erholungszustände zurückkehren könne – genau hier komme der Vagus ins Spiel.

Denn im vegetativen Nervensystem, das über zwei gegensinnig arbeitende Anteile verfügt, ist der Vagus der bedeutendste sogenannte parasympathische Nerv: Er nimmt bei regenerativen Vorgängen wie Schlaf und Verdauung eine dominierende Rolle ein (man spricht auch vom «Rest and Digest»-Modus), während sein Gegenspieler, der Sympathikus, Reserven mobilisiert und den Körper auf Trab bringt («fight or flight»).

Was der Vagusnerv im Körper bewirkt

Als längster Hirnnerv überhaupt zieht der Nervus vagus (von lateinisch vagari: umherschweifen) aus dem Innern des Schädels entlang der Halsschlagader hinab in Brusthöhle und Bauchraum und erreicht mit seinen Verästelungen Rachen und Kehlkopf, Bronchien und Herz, Bauchorgane und Darm.

Dadurch ist er nicht nur beim Schlucken, Würgen und Sprechen unerlässlich, sondern kann ausserdem die Atemwege verengen, die Magensaftproduktion steigern, den Herzschlag bremsen und den Blutdruck senken. Aus den Organen wiederum fliessen über den Vagusnerv sensorische Informationen in den Hirnstamm zurück und signalisieren übergeordneten neuronalen Zentren fortwährend den inneren Zustand des Körpers.

Den Herzschlag über den Vagus beeinflussen

Teilweise lässt sich dieses komplexe Signalgefüge von aussen modulieren. Am besten bekannt: die Beeinflussung des Herzschlags. So gehört es seit langem zum kardiologischen Lehrbuchwissen, dass sich harmlose Formen von Herzrasen oft beenden lassen, wenn der liegende Patient bei zugehaltener Nase und zusammengepressten Lippen kräftig auszuatmen versucht.

Dadurch verändern sich die Druckverhältnisse im Brustraum, was über Reflexe im Hirnstamm den Vagusnerv aktiviert und die Herzfrequenz senkt.

Ein weiteres «Vagusmanöver»: einen grossen Schluck eiskalten Wassers trinken. Und nicht zuletzt lässt sich der Einfluss des Nervus vagus auf das Herz bei jedem tiefen Atemzug beobachten. Denn beim Einatmen wird der Vagus gehemmt, der Sympathikus aktiviert – die Herzfrequenz steigt etwas an. Beim Ausatmen ist es andersherum, und der Puls verlangsamt sich wieder.

Längst versucht eine wachsende Zahl von Forscherteams, solche Zusammenhänge für neue Zwecke zu nutzen. Beispielsweise beschrieb ein Team aus dem französischen Clermont-Ferrand, dass langsames und tiefes Atmen nicht nur positive Auswirkungen auf das Herz habe, sondern dass sich auch das Gefühl von Ängstlichkeit verflüchtigen könne. Die Forscher spekulieren, dass dies mit der Vagusstimulation zusammenhängt.

Und australische Mediziner berichteten in einer Studie von 2021, dass sich neben einer sinkenden Herzfrequenz auch Panikzustände abmildern, wenn man für 30 Sekunden sein Gesicht in kaltes Wasser taucht. Hierbei wird der sogenannte Tauchreflex aktiviert – ein angeborener Mechanismus des Körpers, um Sauerstoff zu sparen und den Herzschlag zu drosseln, was sich wiederum auf das subjektive Erleben auszuwirken scheint.

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Die Stimulation des Vagus kann nicht alles erklären

Das klingt, als könne man durch die gezielte Stimulation des Vagusnervs tatsächlich wie auf Knopfdruck in einen Entspannungsmodus geraten. Aber ganz so einfach ist es nicht. Selbst bei den altbekannten Vagusmanövern sind die physiologischen Mechanismen hochkomplex. So aktiviere der Tauchreflex neben dem Parasympathikus zugleich das sympathische Nervensystem, sagt Paul Grossman, früherer Forschungsleiter für Psychosomatik am Unispital Basel und Spezialist für das parasympathische Nervensystem. Deshalb werde nicht nur der Puls langsamer, sondern zugleich steige der Blutdruck.

Auch sage eine positive Wirkung des Vagus am Herzen noch nichts über seine Effekte in anderen Organen aus. Und ob sich das emotionale Erleben wirklich verändert, weil der Vagus zum Beispiel über die Atmung aktiviert wurde, ist laut Grossman alles andere als sicher.

«Unser Wohlbefinden hängt nicht hauptsächlich vom Vagusnerv ab», unterstreicht der Psychophysiologe. Höhere Emotionszentren im Gehirn dürften einen grösseren Einfluss haben. Womöglich ist es sogar genau umgekehrt: Nicht weil der Vagusnerv stimuliert wird, werden wir ruhig – sondern wenn wir ruhig werden, wirkt sich dies über den Vagus auf den Körper aus.

Der Vagusnerv und die Behandlung von Depressionen

Bis jetzt weiss man: Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen genügt es nicht, den Vagusnerv allein über Atemübungen oder Kältebehandlungen zu stimulieren. Schwer Depressive erhalten mitunter eine Art «Vagus-Schrittmacher»: Am Hals implantierte Elektroden lösen dabei eine elektrische Nervenstimulation aus. Allerdings: Auch bei einer elektrischen Vagusreizung liegt bis jetzt weitgehend im Dunkeln, was sie im Einzelnen im Gehirn bewirkt.

Unterdessen testen Forscher auch die Möglichkeit, die Vagusaktivität durch die Haut hindurch mit kleinen Stromstössen am Ohr zu modulieren: Denn der Nerv versorgt über einen seiner vielen Äste einen Teil der Ohrmuschel mit sensiblen Fasern.

Angesichts solcher Forschungen treibt auch die Ratgeber-Industrie ihre Blüten: Während manche Internet-Tutorials liebevolle Ohrmassagen für den schnellen Stressabbau empfehlen, machen andere geltend, dass sich durch Dehnübungen am Hals ein ängstliches Gehirn gleich ganz umprogrammieren lasse. Derweil bietet ein Zentrum namens «Vagus Management» am Bodensee auch Ausbildungen zum Vagus-Meditationsberater an.

Vieles davon ist eher ein Werbeversprechen als Wissenschaft. Eine Studie von Stressforschern der Universität Konstanz machte bereits vor einigen Jahren deutlich, wie schwer es ist, die psychische Entspannung in solchen Fällen tatsächlich auf die Vagusstimulation zurückzuführen.

Das Team wollte wissen, ob sich mit standardisierten Massagen der Vagus beeinflussen und der Stresslevel senken lässt. Dazu wurden Studentinnen entweder im Bereich des Nervenverlaufs an Nacken und Hinterkopf oder aber nur sachte an der Schulter massiert.

Bemerkenswerterweise veränderten sich die Parameter der Herzfunktion in beiden Fällen auf identische Weise, und auch das Entspannungsgefühl setzte gleichermassen ein. Selbst bei einer Kontrollgruppe, die lediglich zehn Minuten lang dasass, sank das subjektive Stressniveau. Und auch hier zeigte sich ein messbarer Effekt auf das Herz, wenngleich deutlich geringer als bei den Massagen. Anders gesagt: Alles, was uns runterkommen lässt, wirkt sich auf den Vagus aus.

Der Vagus ist kein einfach zu bedienender Ruheknopf

«Wir streben natürlich alle nach einem ruhigen Geist und einem ruhigen Körper», kommentiert der Psychosomatiker Grossman. Zwar sei der Vagus als Signalkanal zwischen Gehirn und Organen fraglos bei vielen psychophysischen Zuständen im Spiel. Doch die Möglichkeiten, ihn zu beeinflussen – zumal ohne Elektrostimulation – blieben schlichtweg begrenzt.

Auch seien die körperlichen Effekte flüchtig und die seelischen Wirkungen nicht unbedingt auf den Vagus zurückzuführen. Ein einfach zu bedienender und nachhaltiger Ruheknopf gegen den Stress ist der Vagus nicht.

Womöglich bedarf es im Alltag auch gar keiner Tricks und Manöver, um ruhig zu werden. Wer trotzdem noch möchte, kann eine kühlende Gelmaske auflegen. Nicolas Rohleder erzählt, dass er dies selbst manchmal vor dem Einschlafen macht – und seine Forschung legt ja nahe, dass dies für Entspannung sorgen kann. Doch ob das an einer gezielten Aktivierung des Vagusnervs liegt, an komplexen Reflexmustern im Hirn, einer kognitiven Beruhigung oder schlicht einer positiven Erwartungshaltung, bleibt offen.

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