Mittwoch, Oktober 9

Messer sind überall zu haben. Sie sind Prestigeobjekte, Attribute der Männlichkeit. Und immer öfter Tatwaffen. Allein in Deutschland gab es im vergangenen Jahr rund 9000 Vorfälle.

Ohne Messer gehe er nicht aus dem Haus, hat Peter Maffay einmal gesagt. In einem Interview mit dem «Playboy». Er sei eben halber Ungar. In Rumänien, wo er aufgewachsen sei, hätten alle Messer bei sich gehabt. Immer. Da habe er sich das angewöhnt. Mit Kraftmeierei habe das nichts zu tun. Aber: «Wenn mir jemand unausweichlich mit Gewalt begegnet, wäre die Antwort eindeutig.»

Wo Messer sind, lauert Gewalt, soll das heissen. Obwohl Messer, nüchtern betrachtet, Werkzeuge sind. In der Küche unabdingbar, unterwegs manchmal praktisch. Um ein Stück Papier sauber abzutrennen, lose Fäden am Anzug zu entfernen. Aber natürlich sind Messer mehr als Werkzeuge. Ein Messer ist auch ein Statement. Nicht nur bei älteren Semestern wie Peter Maffay. Meist völlig harmlos. «Ein rechter Bub hat ein Sackmesser bei sich», sagte man früher in der Schweiz. Ein rotes, mit einem silbernen Schweizerkreuz.

Messer sind auch Prestigeobjekte. Attribute der Männlichkeit. Vor allem bei Jugendlichen. Laut einer Untersuchung des Kriminologischen Instituts Niedersachsen trägt von den vierzehn- bis fünfzehnjährigen Deutschen jeder fünfte gelegentlich ein Messer bei sich. Manchmal auch in der Schule. In der Freizeit und im Ausgang sowieso. Zur eigenen Beruhigung: Ich bin nicht ganz schutzlos. Und als Botschaft: Mit mir könnt ihr nicht alles machen.

Alle 9459 Jahre einmal

Die Messer würden selten eingesetzt, hält die Studie beschwichtigend fest. Allerdings: Immer öfter bleiben sie nicht in der Tasche, sondern werden gezogen. Gerade von Jugendlichen. Allein in Deutschland registrierte die Polizei im vergangenen Jahr knapp 9000 Vorfälle, in denen Menschen mit Messern bedroht und in vielen Fällen auch verletzt wurden. In manchen schwer oder tödlich. Fast täglich finden sich in den Medien Meldungen über Messerattacken. Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Angriffe in Deutschland um rund zehn Prozent gestiegen. In der Schweiz sieht es tendenziell ähnlich aus.

Im März stach ein jugendlicher IS-Anhänger in Zürich auf einen orthodoxen Juden ein und verletzte ihn lebensgefährlich. Ende Mai tötete ein Islamist in Mannheim bei einem Messerangriff einen Polizisten und verletzte fünf weitere Personen, zum Teil lebensgefährlich. Anfang Juli griff in Dresden ein Somalier einen Landsmann an und tötete ihn. Vor zwei Wochen wurden in der englischen Hafenstadt Southport drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren bei einer Messerattacke getötet, zehn weitere Personen wurden verletzt.

Die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Trotzdem wird immer wieder versucht, die Fakten kleinzureden. Der Eindruck, Messerangriffe seien in Deutschland an der Tagesordnung, sei völlig realitätsfremd, belehrt beispielsweise der «Spiegel». Das Gegenteil sei richtig. Die absoluten Zahlen seien nur deshalb höher als früher, weil die Zahl der Gewalttaten insgesamt gestiegen sei. Relativ dazu sei der Anteil der Messerattacken stabil. Statistisch gesehen, rechnet der «Spiegel» vor, werde jeder Deutsche alle 9459 Jahre Opfer einer Körperverletzung mit einem Messer.

Das soll wahrscheinlich beruhigend klingen. Kein Grund zur Aufregung also? Ein Hype, an dem einmal mehr die Medien schuld sind, die sensationslüstern Einzelfälle hochkochen, statt dass sie die Ereignisse so lange «einordnen», bis sie ihren Schrecken verloren haben? Und die Politik, die so verkrampft wie hilflos nach Mitteln sucht, um die Messergewalt einzudämmen, obwohl die Probleme eigentlich an einem ganz anderen Ort liegen?

Wie in Zeitlupe

Natürlich nicht. Man muss schon beide Augen verschliessen, um nicht zu sehen, dass Messerattacken zu einem immer grösseren Problem werden. Die Erfahrungen der Polizisten sind eindeutig: Tätlichkeiten mit Messern nehmen zu. Vor allem in Innenstädten und Wohngebieten, die als «sozial schwach» gelten. Und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein beachtlicher Teil der gemeldeten Vorfälle spielt sich in Bahnhöfen ab. Die Notfallstationen städtischer Kliniken registrieren mehr Opfer von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Und mehr Patienten mit Stichverletzungen.

Weil Messer zur Waffe werden. Obwohl sie dafür nicht geeignet sind. Eigentlich. Militärisch, so hält ein einschlägiges Lexikon fest, sei die Bedeutung des Messers als Waffe schon immer gering gewesen. Eine gewisse Bedeutung habe es höchstens bei beengten Raumverhältnissen: In den Grabenkriegen des Ersten und Zweiten Weltkriegs seien Messerbajonette eingesetzt worden – wozu, wird verschwiegen. Man will es sich nicht vorstellen.

Mit einer Pistole, einem Gewehr einen Schuss abfeuern ist das eine. Mit einem Messer auf einen Menschen losgehen ist etwas ganz anderes. Am 12. August 2022 wurde der Schriftsteller Salman Rushdie in der Nähe von New York während eines Vortrags von einem jungen Mann niedergestochen und beinahe getötet. Im Buch «Knife», in dem er das Erlebnis literarisch verarbeitet, schildert er, wie er die Sekunden vor dem Angriff erlebt hat.

Wie in Zeitlupe sieht Rushdie den Mann im Publikum aufspringen, losrennen und auf sich zukommen. Er erinnert sich an jeden seiner Schritte, sieht sich in der Erinnerung selbst, wie er die Hand hebt, um den Mann abzuwehren, und sieht, wie der Mann ein Messer in seine Hand stösst. Fünfzehn weitere Messerstiche folgen. In den Nacken, in die Brust, ins rechte Auge. Dann wird es schwarz um Rushdie herum. Was es für ein Messer war, daran kann er sich nicht erinnern: «Sie war jedenfalls brauchbar, diese unsichtbare Waffe, und sie tat, was sie tun sollte.»

Messer hat jeder. Sie sind leicht zu beschaffen, in jedem Einkaufszentrum finden sich zuhauf billige Küchenmesser. Jeder Schweizer Soldat bekommt in der Rekrutenschule ein Taschenmesser und ein Bajonett. Mit Klingen, die so scharf sind, dass man jemanden verletzen kann. Lebensgefährlich. Ein einziger Stich kann tödlich sein. Am Hals, im Bauch, in der Brust. Dafür braucht es weder viel Kraft noch besondere Geschicklichkeit. Einsatztrainer der Polizei halten Messer für die effektivste Waffe im Nahbereich. Und für gefährlicher als eine Pistole.

Intime Begegnungen

In der Kriminologie gilt das Messer als «Affektwaffe». Rasch eingepackt, um sich im Ernstfall zu verteidigen. Ebenso rasch aus der Tasche gezogen, wenn eine Situation eskaliert. Unter Einfluss von Alkohol und Drogen oder in einem psychischen Ausnahmezustand. Dann, wenn jede Kontrolle versagt. Ein Messer lässt sich problemlos verstecken. In der Hosentasche, in der Jacke, in der Hand. Es ist in Sekundenschnelle hervorgezogen. Sich gegen eine Messerattacke zu wehren, sei kaum möglich, sagen Fachleute der Polizei, selbst für Personen, die im Nahkampf geübt seien.

Ein Schuss wird aus der Distanz abgegeben. Der Täter muss dem Opfer nicht nahe kommen. Spürt nicht, wie der Körper des Opfers kraftlos zusammenbricht, und hört seine Schreie vielleicht nur von weitem. Verbrechen, die mit einem Messer begangen werden, sind völlig anders. Sie sind, schreibt Rushdie, «Resultate intimer Begegnungen». Was braucht es, um einem Menschen ein Messer in den Leib zu stossen? Das, was man so fachmännisch wie ratlos als «kriminelle Energie» bezeichnet. Hass? Die Hemmungslosigkeit, die ein Mensch nur aufbringt, wenn er ausser sich ist?

Das Messer ist bereit, auch wenn man es nicht sieht. Der Täter weiss, er kann es mit einem Griff aus der Tasche ziehen. Und dem Opfer wird es nicht mehr aus dem Sinn gehen: «Hier bin ich, du Dreckskerl, flüstert das Messer seinem Opfer zu», schreibt Rushdie: «Ich habe auf dich gewartet. Siehst du mich? Ich bin gleich vor deinen Augen, versenke meine Attentäterschärfe in deinen Hals. Spürst du’s? Hier, noch ein bisschen mehr und noch ein bisschen. Ich bin bei dir. Direkt vor dir.»

Messer sind überall. Allein bei Victorinox in Ibach werden jährlich zehn Millionen Taschenmesser hergestellt. Weil die Waffengesetze weltweit verschärft werden, bald auch solche ohne Klinge. Messer ohne Messer gewissermassen. In Deutschland wird über Messerverbotszonen debattiert. Darüber, ob Messer bereits ab einer Klingenlänge von sechs Zentimetern unter das Waffengesetz fallen sollen. Und natürlich darüber, ob Männer mit Migrationshintergrund tatsächlich öfter zustechen. Die Statistik zeigt, dass sie unter den Tätern deutlich überrepräsentiert sind.

Menschen anderer Kulturen hätten ein anderes Verhältnis zu Messern, sagte der Bonner Polizeipräsident Frank Hoever kürzlich vor der Presse. Das habe mit übersteigerter Männlichkeit zu tun, mit Machtgehabe: «Da wollen sich junge Männer in der Gruppe profilieren und machen auf dicke Hose.» Wenn es dann zu Beleidigungen komme, passierten rasch Dinge, die nicht mehr zu steuern seien. Das Messer ist immer bereit. Es liegt in der Tasche. Ein Handgriff genügt.

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