Für Hunderte von türkischen Studenten könnte die Teilnahme an den jüngsten Protesten im Gefängnis enden. Der Oppositionsführer Özgür Özel muss sich wegen Präsidentenbeleidigung verantworten.
Die Dünnhäutigkeit des türkischen Präsidenten ist gut dokumentiert. Seitdem Recep Tayyip Erdogan 2014 zum Staatsoberhaupt der Türkei gewählt wurde, haben Staatsanwälte schätzungsweise 200 000 Ermittlungen wegen Beleidigung des Präsidenten oder der Regierung eingeleitet.
In Zehntausenden von Fällen kam es dabei zu offiziellen Anklagen mit Gerichtsverfahren. Allein im Jahr 2023, aus dem die letzten offiziellen Statistiken vorliegen, wurden mehr als 1600 Personen verurteilt. In den drei Jahrzehnten vor Erdogans Wahl waren es zusammengenommen weniger als 2000 Verfahren gewesen.
Özel nennt Erdogan einen «Junta-Chef»
Mit einem Verfahren unter dem berüchtigten Artikel 299, der im türkischen Strafgesetzbuch den Tatbestand der Präsidentenbeleidigung regelt, muss nun auch Özgür Özel rechnen. Erdogans Anwalt hat diese Woche gegen den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) und inoffiziellen Anführer der grössten Protestbewegung seit mehr als einem Jahrzehnt Anzeige erstattet. Ausserdem wird eine Wiedergutmachung von 500 000 Lira, etwa 11 000 Franken, gefordert.
Özel hatte Erdogan am Parteitag vom Sonntag als «Junta-Chef» bezeichnet. Der CHP-Chef spricht im Zusammenhang mit der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu konsequent von einem «Putsch von oben». Und Junta sei nun einmal der Begriff für die Verantwortlichen eines Putsches, erklärte Özel gegenüber der Zeitung «Cumhuriyet». Imamoglu ist der Präsidentschaftskandidat der CHP und hätte laut Umfragen gute Aussichten, bei der nächsten Wahl Erdogan zu besiegen.
Der Parteitag war kurzfristig anberaumt worden, um drohende Zwangsmassnahmen abzuwenden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen angeblicher Unregelmässigkeiten bei der Wahl Özels zum Vorsitzenden im November 2023. Dies könnte zur Annullierung der Wahl und zur Einsetzung eines neuen Vorsitzenden durch die Regierung führen. Die Partei führte deshalb am Sonntag eine neuerliche Wahl durch, bei der Özel mit grosser Mehrheit im Amt bestätigt wurde.
Mehrere Regierungsmitglieder empörten sich öffentlich über den Junta-Vergleich. Erdogans ultranationalistischer Koalitionspartner Devlet Bahceli sprach sogar von einem rhetorischen Putschversuch. Der offensichtlich gut vorbereitete Özel teilte daraufhin auf X die Aufnahme einer Parlamentsrede aus Bahcelis Zeit als Oppositionspolitiker. Darin hatte dieser Erdogans Regierung selbst mit einer Junta verglichen.
Anklage gegen mehr als 800 Personen
Nicht nur der Oppositionsführer steht im Fadenkreuz der politisierten Justiz. Die Generalstaatsanwaltschaft in Istanbul teilte diese Woche mit, dass im Zusammenhang mit den Protesten gegen Imamoglus Festnahme 20 Verfahren gegen insgesamt 816 Personen eröffnet worden seien. 278 von ihnen befänden sich derzeit in Untersuchungshaft.
In einer Anklage wird für 139 Personen eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren sowie ein Verbot der politischen Betätigung wegen Verstössen gegen das Demonstrationsgesetz und Präsidentenbeleidigung gefordert. Die grosse Mehrheit der Angeklagten sind Studenten. Ein CHP-Sprecher sagte, die Angst der Regierung sei so gross, dass sie bereits 20-Jährige mit einem Politikverbot belegen wolle. Im Istanbuler Stadtteil Kadiköy fand am Dienstagabend eine Solidaritätskundgebung für die inhaftierten Studenten statt.
Ebenfalls am Dienstag wurde die Anklageschrift gegen den Vorsitzenden der Siegespartei, Ümit Özdag, vorgelegt. Dieser war bereits vor den jüngsten Protesten verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft fordert fast acht Jahre Haft wegen Volksverhetzung.
Tatsächlich nimmt der Ultranationalist Özdag in seinen Auslassungen gegen die grosse Zahl von Flüchtlingen in der Türkei kein Blatt vor den Mund. Zu Erdogans Flüchtlingspolitik sagte er einst, dass kein Kreuzzug in den letzten tausend Jahren der türkischen Nation mehr Schaden zugefügt habe. Entscheidender für das juristische Vorgehen gegen den Politiker dürfte aber sein, dass Özdag innerhalb des heterogenen Lagers der Regierungsgegner den radikalen kemalistisch-nationalistischen Flügel vertritt.
Sorge um Gesundheitszustand
Grosse Sorge besteht bei den Regierungsgegnern wegen des Gesundheitszustands von Mahir Polat, einem ebenfalls verhafteten engen Vertrauten des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu. Polat leidet an ernsthaften Herzproblemen und musste seit seiner Festnahme am 19. März bereits mehrmals notfallmässig in ein Krankenhaus gebracht werden.
Seine Anwälte fordern, dass Polat unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen wird und zu Hause auf seinen Gerichtsprozess warten kann. Der Haftrichter ist auf den Antrag bisher nicht eingegangen.