Mittwoch, Februar 5

Am Paul-Scherrer-Institut soll ein Chef verlangen, auf allen Publikationen als Co-Autor aufgeführt zu sein – und dies allein aufgrund seiner Position. Das verletzt die wissenschaftliche Integrität. Der Konflikt steht für ein grösseres Problem.

Es ist eine hochkompetitive Welt. Wer als Wissenschafterin oder Wissenschafter überleben will, muss möglichst viele Fachartikel veröffentlichen. «Publish or perish», heisst es: Publiziere oder krepiere. Mit der Publikationsliste bewirbt man sich für Jobs, Fördermittel – und stärkt seinen Ruf. Entsprechend wichtig ist darum bei jedem wissenschaftlichen Artikel: Wer erscheint als Hauptautorin, wer als Co-Autor? Und wer wird bloss am Rande verdankt?

Eigentlich ist der Fall klar: Alle, die einen «wesentlichen Beitrag» an der Arbeit geleistet haben, werden als Autoren aufgeführt. So steht es in den Richtlinien der Fachzeitschriften, der Akademien und der Hochschulen. Doch was bedeutet das? Und was tun, wenn der Chef verlangt, dass sein Name auf allen Publikationen der Forschenden erscheint? Um diese Fragen ist am Paul-Scherrer-Institut (PSI) im aargauischen Villigen, das zum ETH-Bereich gehört, ein heftiger Konflikt entstanden. Es geht um möglichen Machtmissbrauch und Verstösse gegen die wissenschaftliche Integrität.

Alle wussten von dieser Regel

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen der Leiter eines der acht Zentren am PSI und ein ehemaliger Doktorand. Der junge Forscher sei ein «sehr heller Kopf», wie viele sagen, der während seiner Zeit am PSI viele Artikel publizierte, darunter auch im renommierten Fachmagazin «Nature Physics». Er hat das PSI im Januar 2024 im Streit verlassen, weil er sich in mehrerer Hinsicht ungerecht behandelt fühlte. Seither deckt der Physiker seinen ehemaligen Chef, das PSI, aber auch den ETH-Bereich per E-Mail mit Vorwürfen ein.

Besonders schwerwiegend: Der Leiter verlange von den Doktoranden, aber auch von den anderen Forschenden am Zentrum, dass sie ihn auf sämtlichen ihrer Artikel als Co-Autor aufführten – unabhängig davon, ob er etwas dazu beigetragen habe oder nicht. So habe er das bei seinen Artikeln ebenfalls halten müssen, sagt der Ex-Doktorand, «auch wenn der Leiter überhaupt keinen Anteil an der Arbeit hatte». Trifft das zu, ist dies ein klarer Verstoss gegen die wissenschaftliche Integrität. Der so Beschuldigte weist alle Vorwürfe von sich, das PSI dementiert ebenfalls eine solche Weisung.

Recherchen zeigen, dass es zwar keine schriftliche Weisung gibt. Hingegen bestätigen die meisten angefragten gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitenden des Zentrums, dass es die «implizite Regel» gebe, dass der Chef stets als Co-Autor fungieren sollte. Dies sei die Praxis, heisst es. «Diese gibt es nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Institutionen», sagt einer. «Wir tendierten dazu, ihn auf allen Publikationen aufzuführen.» Und: «Da gab es schon Papers, zu denen er nicht wesentlich beigetragen hat, auf denen er aufgeführt ist.» Ein anderer sagt: «Meiner Meinung nach gibt es diese Sonderregelung schon, auch wenn sie unausgesprochen ist. Er muss immer überall draufstehen.» Ein weiterer sagt, er wisse nichts von einer solchen Order, er habe den Leiter aber ohnehin «aufgrund seiner Inputs in unseren Arbeiten» aufgeführt.

Die Statistik spricht ebenfalls für eine solche Praxis: Bei den auf der PSI-Website aufgelisteten Publikationen der letzten fünf Jahre mit Erstautoren aus dem besagten Zentrum taucht der Leiter zu 94 Prozent als Co-Autor auf, wie eine Analyse der «NZZ am Sonntag» zeigt. Ausnahmen sind etwa Artikel von Einzelpersonen. Ein noch deutlicheres Bild zeigt sich bei den Veröffentlichungen der Doktoranden des Zentrums im selben Zeitraum, die in der Publikationsdatenbank Pubmed zu finden sind. Dort ist der Leiter bei ausnahmslos allen Publikationen Co-Autor. Hier wird die Regel offenbar konsequent durchgesetzt.

Das war bei dessen Vorgänger noch anders. Dieser war nur bei einzelnen Publikationen der damaligen Doktoranden als Autor aufgelistet, wie ein Blick auf deren Publikationslisten zeigt. Insgesamt war der Vorgänger gemäss Pubmed bei rund fünf Artikeln pro Jahr Co-Autor, der heutige Leiter dagegen steht jährlich bei bis zu dreissig Veröffentlichungen in der Autorenzeile.

Wie kommt es dazu? Am Anfang steht die schriftliche Weisung, dass alle Publikationen vom Zentrumsleiter bewilligt werden müssen, bevor sie publiziert werden. Solche Regeln kennen auch andere Bereiche am PSI, doch genügt es dort meist, die Publikation vom Gruppenleiter bewilligen zu lassen. Laut dem ehemaligen Doktoranden ist klar: «Er bewilligt die Publikation nur, wenn er auch als Co-Autor gelistet wird.»

Kulturwandel noch nicht abgeschlossen

Das widerspricht eindeutig den wissenschaftlichen Vorgaben, bestätigt Edwin Constable von der Universität Basel. «Niemand kann als Autor gelten, bloss weil er eine Leitungsfunktion innehat.» Constable ist so etwas wie die graue Eminenz, wenn es um wissenschaftliche Integrität geht. Er hat eine nationale Expertengruppe geleitet, die heute in der Schweiz geltende Grundsätze dazu erarbeitet hat. «Als Co-Autoren dürfen nur Personen aufgeführt werden, die einen wesentlichen Beitrag zur Forschungsarbeit geleistet haben.»

Es reiche auch nicht, wenn der Chef die Finanzen bereitstelle, den Zugang der Forschenden zu Forschungsgeräten sichere oder einen Text am Ende gegenlese. «Ein wesentlicher Beitrag des Vorgesetzten muss darin bestehen, dass sich dieser intensiv um die Forschung und den Forschenden und seine Fortschritte kümmert», sagt Constable – Voraussetzungen, die offenbar nicht bei allen Publikationen am Zentrum erfüllt sind.

Damit steht das Zentrum am PSI aber nicht allein da in der Welt der Wissenschaft. Constable bestätigt, dass der Kodex zur wissenschaftlichen Integrität noch lange nicht an allen Schweizer Forschungsinstitutionen durchgehend sauber angewandt werde. Früher hätten einige Chefs ihre Co-Autorschaft standardmässig bei allen Publikationen verlangt. Spätestens seit im Jahr 2021 die Empfehlungen seiner Kommission von der Hochschulkonferenz und den Akademien angenommen wurden, müssten diese eigentlich für alle gelten. Am PSI gibt es eine entsprechende Weisung bereits seit 2014. Doch: «Der Kulturwandel in der Schweiz ist noch nicht abgeschlossen», sagt Constable. Besonders ausgeprägt sei dies in der Medizin.

Ein Beispiel veröffentlichte kürzlich der «Beobachter», der einen Arbeitskonflikt am Universitätsspital Zürich aufrollte. Dort rügte ein leitender Arzt eine Nachwuchsprofessorin, weil sie einen Fachartikel ohne seinen Namen publiziert hatte. Er forderte, künftig bei allen Publikationen als Mitautor geführt zu werden. Dies, obwohl etwa auch Beatrice Beck Schimmer, Direktorin der Universitären Medizin Zürich, betont, dass es bezüglich der Handhabung der Autorschaft keinen Unterschied zwischen der Medizin und anderen Wissenschaften geben sollte: «Die Vorgaben sind klar definiert.»

Bezeichnenderweise bewegt sich die Forschung am PSI-Zentrum auf der Schnittstelle von Medizin und Physik. Der Leiter ist Mediziner, während viele seiner Mitarbeiter Physiker sind – die Doktorierenden sind offiziell bei der ETH Zürich eingeschrieben, da das PSI keine Doktortitel vergeben darf.

Der Fall hat mittlerweile weite Kreise gezogen. Schockiert zeigt sich Janet Hering. Sie war bis Ende 2022 Leiterin des Wasserforschungsinstituts Eawag, das wie das PSI zum ETH-Bereich gehört. «Der ehemalige Doktorand präsentiert einen ziemlich klaren Fall», sagt sie. Als Mediziner könne der Leiter bei Forschungsartikeln, die sich allein um Physik drehten, gar keine substanziellen Beiträge leisten. Laut Hering haben sich im Bereich der Co-Autorschaft die formalen Regeln schneller geändert, als es manchen älteren Kollegen lieb ist. «Das bedeutet jedoch nicht, dass sie die geltenden Vorschriften ignorieren dürfen.»

Der angegriffene Leiter bestreitet die Vorwürfe vehement. Es gebe keine Regelung, dass er auf allen Publikationen als Co-Autor aufgeführt werden müsse. Zu den Publikationen, die seinen Namen tragen würden, habe er jeweils wesentliche Beiträge geleistet, diese umfassten etwa die Planung, Vorbereitung, Finanzierung und Kontrolle der Forschungsarbeit. Das PSI hat aufgrund der Beschwerde eine Stichprobe von zehn Publikationen untersucht, auf denen der Leiter als Co-Autor aufgeführt ist. Laut dem Vizedirektor Thierry Strässle ist «keine unerlaubte Co-Autorschaft» festgestellt worden. Dies teilte er dem Beschwerdeführer in einem Brief mit.

Aufsichtsanzeige beim ETH-Rat

Allerdings relativiert er diese Aussage in den Folgesätzen: «Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Publikationen in einem medizinischen Umfeld entstehen.» Dort würden bekanntermassen «von der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierte spezifische Regelungen» zur Anwendung kommen. Und er schreibt auch von «einer Notwendigkeit zum Handeln» – und zwar «generell, aber nicht spezifisch auf diesen Fall bezogen»: Es gelte, die Betreuer darauf hinzuweisen, dass sie «im Falle von bloss kleineren, eher unterstützenden Beiträgen» auf Autorschaft verzichten sollten. Auf Anfrage sagt Strässle, er wolle damit sagen, dass die Regeln zwar für alle die gleichen seien, jedoch in der Praxis in verschiedenen Wissenschaftsgebieten unterschiedlich ausgelegt würden.

Neu wurde laut dem Zentrumsleiter eine Art Checkliste eingeführt, die sicherstellt, dass alle aufgeführten Co-Autoren auch tatsächlich dafür berechtigt sind. Interessanterweise wird auf der neusten Publikation eines Doktoranden der Zentrumsleiter nicht mehr aufgeführt.

Der ehemalige Doktorand will sich mit den Erklärungen nicht zufriedengeben. Er hat sich sowohl bei der ETH, bei der er doktorierte, als auch beim ETH-Rat beschwert. Die ETH hat sich als nicht zuständig erklärt. Zwar würden die PSI-Physikdoktoranden von ihr betreut, doch habe das gemeldete mutmassliche Fehlverhalten nicht an der ETH Zürich, sondern am PSI stattgefunden.

Bleibt der ETH-Rat als oberste Instanz. Dieser bestätigt auf Anfrage, dass in diesem Zusammenhang eine Aufsichtsanzeige eingegangen sei. Man werde aber nicht den Einzelfall beurteilen, sondern «ob und wie das PSI seinen Verpflichtungen bezüglich wissenschaftlicher Integrität nachkommt».

Ein Artikel aus der «»

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