Donnerstag, August 28

Mit ihrer Idee, die berühmten Sinfonien des Spätromantikers in die Gegenwart fortzuschreiben, haben die beiden Schweizer Simon Gaudenz und Andrea Lorenzo Scartazzini einen international beachteten Coup gelandet.

Am Anfang stand eine kühne Idee, erdacht von zwei Schweizern: Sie wollten den weltweit gespielten Sinfonien Gustav Mahlers im Rahmen eines auf mehrere Jahre angelegten Konzertprojekts eigens geschaffene Werke an die Seite stellen, die als eine Art Ohrenöffner für das Publikum dienen sollten. Der Ort des Geschehens: die traditionsreiche Universitätsstadt Jena im Osten Deutschlands, musikalisch allerdings nicht gerade ein Hotspot auf der Landkarte der europäischen Kulturzentren.

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Ein Wagnis also, nicht zuletzt in künstlerischer Hinsicht – denn wer wollte sich ernsthaft der Konkurrenz mit einem derart berühmten Komponisten aussetzen, in dessen Sinfonien es immer zugleich um hochgeistige und letzte Fragen geht? Aber der Dirigent Simon Gaudenz, Generalmusikdirektor der Jenaer Philharmonie, und der Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini liessen sich davon nicht schrecken – zum Glück, denn sie landeten mit ihrem Projekt einen Coup, der überregional Aufsehen erregt hat.

Eine Stimme der Gegenwart

Die beiden gebürtigen Basler fanden über die gemeinsame Verehrung für Mahlers Musik zusammen. Als Scartazzini zum ersten Mal dessen Musik hörte, war es «Liebe auf den ersten Blick», wie er sagt, obwohl er vor allem mit italienischem Opernrepertoire aufgewachsen war. Die «heftige Emotionalität» der 2. Sinfonie habe ihn sofort ergriffen. Auch Gaudenz, der Mahlers Musik zuerst als Orchestermusiker kennenlernte, verweist auf die «grenzenlose Emotion», die jeden Interpreten zwinge, «ganz unmittelbar seine Seele auszuschütten».

Noch heute sei es diese Direktheit und Intensität, die ihn inspiriere, wenn er selbst vor dem Orchester stehe: «Wer ein Werk von Mahler mit dem Orchester erarbeitet, kann, ja muss ohne schlechtes Gewissen immer auf dem Extrem bestehen. Alles, was den Ausdruck erhöht, stärkt diese Musik, und was bei vielen anderen Komponisten als übertriebene Grimasse wahrgenommen werden würde, stimmt bei Mahler genau.»

Als Gaudenz eine Gesamtaufführung der Mahler-Sinfonien plante, war ihm schnell klar, dass er es ein wenig anders angehen wollte als üblich. «Wir wollten etwas schaffen, was nicht beliebig, sondern nachhaltig ist und bleibt.» Ein reiner Mahler-Zyklus erschien ihm wenig originell, zumal dies längst eine bevorzugte Spielwiese international führender Orchester ist. Stattdessen dachte Gaudenz experimenteller und suchte nach einer spannenden Ergänzung für die allbekannten Werke.

Das Ziel sei dabei gewesen, «die Stimme der Gegenwart» in das Projekt einzubringen und «mit einem zeitgenössischen Komponisten eine Brücke zum Publikum» zu bauen. Einen «Komponisten zum Anfassen» wollte Gaudenz für Jena gewinnen – in Scartazzini fand er ihn und verpflichtete ihn sogleich für eine Dauer von sieben Jahren als Composer-in-Residence. Mit dem Engagement war der Auftrag verbunden, Stücke zu komponieren, die den Sinfonien Mahlers jeweils bei den Konzertaufführungen an die Seite gestellt werden konnten.

Scartazzinis Kompositionen sollten einerseits in einem engen Bezug zu Mahler stehen, aber andererseits auch als eigenständige Werke funktionieren. Bei der Suche nach einem Ansatz, einer «eigenen Stimme» für das Projekt, wurde Scartazzini schnell klar, dass er Mahler nicht direkt zitieren wollte. Stattdessen habe er «eine Art Dialog» aufgenommen: «Ich habe Mahler zugehört und mit meiner Musik über die Zeiten hinweg geantwortet.»

So herausfordernd das angesichts der ausladenden, in der Mehrzahl bereits abendfüllenden Grosswerke zunächst erscheint: Letztlich hat Scartazzini es sogar als «vergleichsweise leicht» empfunden, sich Mahler auf diese Weise als eigenständiger Komponist anzunähern. Denn Mahler «öffnet Räume, sein Werk ist voll von Bezügen, biografischen und literarischen Querverweisen» und sei dadurch viel zugänglicher und weniger introvertiert als beispielsweise das Œuvre von Bruckner. Sich damit kompositorisch zu beschäftigen, sei «einladend» gewesen, sagt Scartazzini.

Reigen seliger Geister

Scartazzini erläutert das Verfahren am Beispiel der 3. Sinfonie, der er ein Stück mit dem Titel «Spiriti» vorangestellt hat. Mahler entwerfe in der Dritten «ein kosmologisches Panorama – von der unbelebten Natur über Flora, Fauna, Tier und Mensch bis hinauf zu den Engeln und der göttlichen Liebe. Da hatte ich den Impuls, diesen Reigen augenzwinkernd mit einem filigranen Scherzo über die Geisterwelt zu ergänzen.» Bei der Aufführung erziele das eine besondere Wirkung, wie Simon Gaudenz erzählt: «Dadurch, dass die Musik von Scartazzini wie auf Zehenspitzen daherkam, war der folgende Beginn der 3. Sinfonie unglaublich niederschmetternd und der Eindruck dieser Schwere und Wucht noch viel stärker, als wenn wir direkt mit Mahler begonnen hätten.»

Im Fall der 4. Sinfonie hat Scartazzini mit der Instrumentierung seines Stücks einen Bogen geschlagen. «Als Spiegelung des letzten Satzes der Vierten, der ein Lied mit Orchesterbegleitung ist, schrieb ich mit ‹Incantesimo› ein vokales Gegenstück.» Auf diese Weise sei eine klangliche Symmetrie entstanden, die wiederum die Wirkung der Mahler-Sinfonie beeinflusse.

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Umgekehrt habe aber auch dessen Musik Einfluss auf seine eigene Tonsprache ausgeübt. Verglichen mit seinen bisherigen Werken habe er in seinen komponierten Erwiderungen auf Mahler einen «bewussten Schritt zur Tonalität gemacht». So sind Stücke entstanden, die den stilistischen und musikalischen Rahmen faszinierend erweitern, indem sie das eine Mal einen spannungsvollen Kontrast zu Mahlers Musik schaffen, das andere Mal dann wieder fast mit ihr verschmelzen.

Am eindrucksvollsten geschieht das bei Scartazzinis Werk «Enigma», das er als finale Reflexion zur 9. Sinfonie geschaffen hat. «Das Stück setzt an jenem Punkt an, an dem bei Mahler im Finalsatz alles zum Stillstand kommt. Von dort aus wird der Weg mit immer höher steigenden, fast körperlosen Geräuschklängen weitergeführt in die Stille, in die Vergeistigung. Es ist eine Art Himmelfahrt für Mahler.»

Anders als bei den übrigen Sinfonien standen diese sphärischen Töne erstmals am Ende und haben das Grossprojekt in Jena auch beschlossen. Beim Abschlusskonzert folgte auf das Adagio aus der nachgelassenen 10. Sinfonie dann eine erste zyklische Aufführung aller Stücke von Scartazzini. «Mahler war nun der kleine Bruder, sonst war es immer umgekehrt», sagt Gaudenz. Nachhören kann man das originelle Projekt auf zehn Einspielungen, die auf Grundlage der Konzertaufführungen entstanden sind.

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