Donnerstag, Dezember 26

Das Individuum kann für sich entscheiden, die eigenen Ansprüche zu reduzieren. Die Gesellschaft jedoch braucht klügere Verzichtskonzepte, um langfristig Wachstum zu ermöglichen.

Jeff Koons ist vielleicht ein schlechter Künstler. Aber er ist ein Genie der Selbstvermarktung. Und für die Inszenierung seines übergrossen Egos ist ihm nur die grösste Bühne gross genug. Vor einer Woche hat er eines seiner Kunstwerke auf den Mond geschossen. Viele werden nun sagen, da gehörten sie auch hin. Jeff Koons wäre der Letzte, der widersprechen würde.

Als vor ein paar Tagen die erste private Mondlandung glückte, befand sich an Bord der Sonde auch ein Kunstwerk des amerikanischen Künstlers. Es besteht aus 125 Stahlkugeln in der Grösse von Golfbällen. Jeff Koons wird das Werk so rasch nicht wiedersehen. Er hat es der Zukunft und dem Mond und dessen künftigen Besuchern geschenkt. Immerhin ist der Kubus auf einem Selfie deutlich zu erkennen, das die Sonde zur Erde zurückgeschickt hat.

Die lunare Dauerleihgabe ist eine bemerkenswerte Verzichtsleistung. Sie ist zum einen pathetisch, weil der logistische Aufwand in einem absurden Missverhältnis steht zur künstlerischen Bedeutung des Objekts. Zum anderen zeugt sie vor allem vom intakten merkantilen Geist des Künstlers. Jeff Koons würde nichts weggeben, wenn der Verzicht sich nicht monetär auszahlen würde.

Er hat von dem auf den Mond geschossenen Kunstwerk, wenn man es denn so nennen will, ein Duplikat angefertigt. Für die erdnahen kommerziellen Zwecke sind die Kugeln etwas grösser und mit Diamanten und anderem Gestein besetzt. Sie sollen für zwei Millionen das Stück gehandelt werden, ausserdem sind für digital versierte Kunden auch NFT im Angebot. Sollten alle 125 Kugeln verkauft werden, käme immerhin eine Viertelmilliarde zusammen. Der kleine Verzicht würde eine fabelhafte Rendite erzielen: ausserirdisch eben.

Nervige Retter der Welt

Das Kalkül des geschäftstüchtigen Künstlers macht aus dem Verzicht eine Karikatur, die all jene verhöhnen muss, die notgedrungen verzichten. Selbst in den hochentwickelten Ländern des Westens gibt es eine Armut, die Menschen täglich in die Lage bringt, ihre elementaren Bedürfnisse nicht befriedigen zu können. Sie leiden Mangel, keine Gloriole entschädigt für die Einschränkungen, sie haben schlicht keine Wahl.

Neben der Armut gibt es die selbstgewählte Bescheidenheit jener, die freiwillig Verzichtsleistungen erbringen und damit ein politisches Programm verbinden. Sie vertreten die Philosophie des Degrowth oder Postwachstums: «Weniger ist mehr» lautet ihre Devise, die sie wie ein religiöses Mantra vor sich hertragen, und sie zeigen so mit ihrem heroischen Beispiel der Gesellschaft, dass Wachstum nicht die einzige, vielmehr die falsche Option sei. Sie zelebrieren ihre moralische Erhabenheit und glauben an ihren Beitrag zur Weltrettung. Sie mögen etwas nervig sein, doch immerhin richten sie keinen Schaden an, solange sie unter sich bleiben und nicht die Regierungspolitik mitbestimmen.

Eine andere Verzichtsform ist die Askese von Menschen, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus auf alles verzichten, was nicht lebensnotwendig ist. Eines der beeindruckendsten Beispiele für diese Hingabe an die asketische Lebensführung ist die französische Philosophin und Mystikerin Simone Weil. Obgleich an Tuberkulose erkrankt, hungerte sie sich während des Zweiten Weltkrieges gleichsam zu Tode und starb im Alter von vierunddreissig Jahren. Kurz vor ihrem Tod notierte sie in ihren Aufzeichnungen: «Nichtgestilltes Verlangen, unersättlich durch sich selbst. Die Unmöglichkeit, es zu stillen, ist seine Wahrheit, die Hoffnung, es zu sättigen, ist falsch.»

Ihren Verzicht zu Tode verband Simone Weil in ihrem englischen Exil mit einem politisches Zeichen in Zeiten des Krieges: Sie weigerte sich, mehr zu sich zu nehmen als das, was ihre Landsleute im besetzten Frankreich täglich erhielten. Mutmasslich hat sie noch weniger gegessen.

Weder die extreme Askese noch die wachstumsfeindliche Degrowth-Ideologie sind zur Nachahmung empfohlen. Immerhin vermochte Simone Weil mit ihrem Beispiel aufzurütteln. Demgegenüber ist der westlichen Gesellschaft und noch weniger den schlechter entwickelten Ländern mit negativem Wachstum nicht zu helfen.

Temperierter Kapitalismus

Man kann allerdings auch aus ganz rationalen Motiven verzichten wollen. Dann steht dahinter ein vernunftgelenktes Kalkül, mit dem das eigene Überleben gesichert werden soll, indem – zum Beispiel – das Wachstum nicht maximiert, sondern optimiert wird. Der Philosoph Otfried Höffe hat im vergangenen Jahr in seinem Essay über «Die hohe Kunst des Verzichts» zwei überraschende Formen der Selbstbeschränkung genannt, die längst in unsere Lebenspraxis eingegangen sind und die auf solchen Optimierungsstrategien beruhen.

Höffe weist darauf hin, dass der von Kant geforderte «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit» nur gelingen kann, wenn mit einer Willensanstrengung ein notwendiger Verzicht geübt wird: Der Mensch muss, will er die eigenen Verstandeskräfte ausbilden und gebrauchen, die Neigung zu Faulheit wie Feigheit einschränken. Bloss da befreit der Mensch sich aus der Unmündigkeit, wo er zuerst jene Kräfte zu mässigen lernt, die ihn am eigenständigen Denken hindern.

In seinen Überlegungen zur «Kunst des Verzichts» nennt Höffe neben dem individuellen Verhalten auch noch ein institutionelles Feld, wo sich Einschränkungen überraschend bewähren können und tatsächlich längst bewähren. Rationalität und Rationalisierungsleistung des Kapitalismus bestehen darin, so Höffe im Rückgriff auf Max Weber, dass er gelernt hat, das Gewinnstreben nicht zu maximieren, sondern Mass zu halten. Damit werde das Risiko limitiert und der Gewinn verstetigt.

Wir wissen aus zahlreichen Vorfällen der jüngsten Zeit – von der Credit Suisse bis zu dem Immobilien-Investor René Benko –, dass die Versuchung, der irrationalen Gewinnmaximierung alles andere unterzuordnen, häufig unwiderstehlich ist. Solche Beispiele widerlegen die Idee eines temperierten Kapitalismus nicht, sondern bekräftigen die Richtigkeit des Ansatzes.

Grundpfeiler der Zivilgesellschaft

Ob das Individuum den Fleischkonsum reduziert oder auf Kuhmilch verzichtet, ist allein eine Frage persönlicher Vorliebe. Weder lässt sich damit die Klimaveränderung aufhalten, noch kann auf diesem Weg die unethische Tierhaltung beseitigt werden.

Dass ein Verzicht gesellschaftlich relevant und vernünftig sein kann, bewahrheitet sich gerade dort, wo man es am wenigsten erwartet hätte. Wiederum heisst Verzicht auf Faulheit nicht Totalverzicht, sowenig wie die Einschränkung der Gewinnmaximierung eine Absage an den Gewinn überhaupt bedeutet. Es zählt die Optimierung.

Die wiederholte Überwindung der Faulheit bringt den mündigen Bürger hervor, dem weiterhin faule Pausen gegönnt seien. Und die temperierte Gewinnsucht schafft die Grundlage für eine wertschöpfende und nachhaltige unternehmerische Tätigkeit. Damit ruhen die beiden Grundpfeiler unserer Zivilgesellschaft in ihrem Kern auf Verzichtsleistungen: das Individuum als politisch verantwortliches Subjekt, der Kapitalismus als Garant wirtschaftlichen Gedeihens.

Der Philosoph Markus Gabriel wies vor einiger Zeit in einem Interview mit der «Frankfurter Rundschau» darauf hin, dass es nicht allein darum gehen könne, wie wir in der endlichen Welt umweltverträgliche und technologisch fortschrittliche Lösungen finden können für unsere tendenziell unendlichen Wünsche und Bedürfnisse. Vielmehr sei auch zu klären, «warum wir glauben, das zu wollen, wofür es noch keine Lösung gibt».

Man meint die Antwort herauszuhören: Wir sollten – aus ethischen Gründen – nicht wollen, was möglicherweise in der Summe seiner Folgen schädlich und darum in der langen Frist nicht beherrschbar ist. Gabriel vermeidet es nur darum, den Verzicht zu propagieren, weil ihm jede Verzichtsideologie fremd ist. Aber er ist Skeptiker genug, den Begehrlichkeiten des Individuums umso mehr zu misstrauen, je vehementer sie geäussert werden.

Konservative Moralisten

Die Skepsis ist berechtigt, und gleichwohl sollte sie sich vor den falschen Schlüssen hüten. Das Begehren, sei es materialistisch, sei es ideell, ist der mächtigste Antrieb menschlichen Erfindergeistes. Das Wollen einzuschränken, hiesse darum unweigerlich Rückschritt. Es liegt vielmehr in der Natur des Menschen, stets über das Bestehende hinauszuwollen. Im Verzicht auf Behaglichkeit liegt darum der Fortschritt begründet.

Die Propheten des Verzichts möchten den Menschen gerne kleinhalten. Sie sind konservative Moralisten, die im Bestehenden nur die Vorstufe dessen sehen, was sich in der Zukunft zum noch Schlechteren entwickelt. Im Rückbau unserer Begehrlichkeiten glauben sie die Menschheit vor dem Untergang bewahren zu müssen.

Mit dem Verzicht ist es wie mit Einsparungen. Man macht beides häufig am falschen Ort. Verzichte sollten befreien, das tun sie allerdings nur, wenn sie Spielräume schaffen. Das gelingt dort am besten, wo die Selbstbeschränkung unbekannte Wege öffnet.

Wer seine Neigung zu Faulheit und Feigheit einschränkt, verschafft sich Freiräume im Denken und Handeln. Wer im Kapitalismus nicht nur eine Maschine der Gewinnmaximierung sieht, bewahrt ihn vor seiner Selbstzerstörung. Und wer im Biedermeier des Bestehenden noch nicht das Nonplusultra (wörtlich: nicht mehr weiter) erkennt, öffnet den Vorstellungsraum jenseits des Horizonts. Besseres könnte der aufgeklärten Gesellschaft nicht passieren. Da kann Jeff Koons getrost so viel auf den Mond schiessen, wie er will.

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