Der epochale Roman steht ebenbürtig neben Marcel Prousts «Recherche» und Thomas Manns «Zauberberg». Eine Ausstellung im Zürcher Museum Strauhof erkundet den intellektuellen Horizont, aus dem er hervorging.
Die «Roaring Twenties» sind auch die gloriosen Jahre der Virginia Woolf. Es war die Zeit, da die Intellektuellen und die Schriftsteller Londons und ganz Englands sie ihrer Essays wegen zu bewundern und gleichermassen zu fürchten begannen. Kaum einer ihrer Zeitgenossen führte eine schärfere Feder, kaum einer konnte erbarmungsloser spotten, und wenige verstanden es wie sie, Dichter von Blendern zu scheiden. Und wenn Virginia Woolf einmal auf ein dichterisches Kunstwerk stiess, dann lernte man sie erst richtig kennen. Denn in der hingebungsvollen Bewunderung brachte sie ihre volle Brillanz zur Geltung. Um es in einem Paradox zu sagen: mit nüchterner Emphase.
1925 erschienen diese literarischen Essays gesammelt in «The Common Reader». Das Buch hatte nicht seinesgleichen und machte Furore. Drei Jahre später veröffentlichte sie ihren später verfilmten Roman «Orlando». Und 1929 schrieb sie mit «A Room of One’s Own» eines der Gründungsdokumente der Frauenbewegung. Darin stehen diese legendär gewordenen Sätze: «Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können.»
In diesen Jahren wurde Virginia Woolf nicht nur eine weit über England hinaus bekannte Schriftstellerin, die neben Joyce oder Proust fortan als Begründerin des modernen Romans galt. Sie wurde auch zu einer Stilikone. 1924 erscheint sie auf dem Cover der «British Vogue», nach der Veröffentlichung von «Orlando» nominiert sie die amerikanische Modezeitschrift «Vanity Fair» zur «Celebrity of the Year». Und nicht zuletzt beginnt sie in diesen Jahren Artikel für die «Vogue» zu schreiben.
Prophetische Bücher
In der Mitte dieses Jahrzehnts allerdings geschieht etwas Denkwürdiges, etwas Ungeheuerliches in der Geschichte der Literatur. Nur ein halbes Jahr nach Thomas Manns «Zauberberg» erscheint Virginia Woolfs ebenso epochaler Roman «Mrs. Dalloway». Wie Thomas Manns «Zauberberg» entsteht auch «Mrs. Dalloway» aus einer imaginären Zäsur zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Beide Romane haben die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts im Blick, und beide Autoren vermitteln in ihren Büchern auf je eigene Weise, ahnungsvoll und prophetisch, eine Vorstellung dessen, was der Welt mit dem nächsten Krieg erst noch bevorstehen sollte.
Aus Anlass der hundert Jahre seit Erscheinen von «Mrs. Dalloway» zeigt das Museum Strauhof in Zürich eine von Elisabeth Bronfen kuratierte fulminante Ausstellung. Die emeritierte Anglistik-Professorin der Universität Zürich und exzellente Kennerin von Virginia Woolfs Werk stellt den Roman vor den Hintergrund des Ersten Weltkriegs sowie in die Kulisse der boomenden britischen Hauptstadt. Beide Szenerien werden mit Filmmaterialien vergegenwärtigt.
Auf der einen Seite rattern hier die Maschinengewehre, mit denen besinnungslos anrennende Infanteristen niedergemäht werden; auf der anderen Seite brummen die Dieselmotoren der Londoner Doppeldeckerbusse, die ihrerseits eine Menschenmasse durch die Stadt befördern. In den Strassen der City treffen alle aufeinander: Arbeiter und Aristokraten, Prothesen und Spazierstöcke mit ihrem Tackern, Armut und Reichtum. Das Wuseln auf den Strassen sieht den Sturmläufen auf den Schlachtfeldern ganz und gar nicht ähnlich, und trotzdem scheint es einer vergleichbar sinnlos verheerenden Choreografie zu folgen.
Eine nie verblassende Sehnsucht
An einem einzigen Junitag des Jahres 1923 spielt Virginia Woolfs Roman «Mrs. Dalloway». Vom Morgen bis spätnachts zieht sich der Erzählfluss hin, als würde die Zeit stillstehen. Aber sie setzt nicht aus, vielmehr erinnert der im Roman rhythmisch wiederkehrende Stundenschlag von Big Ben unerbittlich an das Vergehen der Zeit. Auch in der Ausstellung hört man in gnadenloser Regelmässigkeit die Glocke, die den scheinbar ins Unendliche gedehnte Augenblick zerschneidet.
Gezielt unterläuft der Roman dieses Dispositiv der Zeit. Die Gedankengänge der beiden Hauptfiguren folgen verworrenen Wegen, sie greifen vor und zurück, oszillieren zwischen ferner Vergangenheit und unmittelbarer Zukunft. Clarissa Dalloway einerseits hat vor ihrem inneren Auge Bilder aus ihrer späten Jugend, als noch alle Zukunft verheissungsvoll vor ihr stand und als der Kuss einer Freundin etwas Unerfüllbares zu versprechen schien und eine im Leben nie verblassende Sehnsucht weckte.
Der traumatisierte Kriegsveteran Septimus Smith anderseits ist gequält von seinen Erinnerungen an die auf dem Feld tot zurückgelassenen Kameraden, hört Stimmen und bewegt sich an einem schrecklichen Abgrund entlang. Während Clarissa Dalloway am Abend dieses Tages eine Party in ihrem Haus veranstaltet, springt er von einem Balkon in die Tiefe. Tagsüber jedoch gingen sie wie die übrigen Romanfiguren auf unterschiedlichen Routen kreuz und quer durch die Stadt und zeichneten, ähnlich wie ihre mäandernden Gedanken, ein verschlungenes Netz in Londons Stadtplan.
In der Ausstellung kann man ihren Wegen über einem auf dem Boden ausgelegten grossformatigen Stadtplan folgen. Stelen hegen den Schauplatz ein, darauf orientieren Texttafeln über die verschiedenen Figuren des Romans, markante Szenen und die ineinander verflochtenen Erzählstränge. Wo immer aber man hier steht, stets öffnen sich Blickachsen auf die Filmdokumente aus Londons Stadtleben oder von Maschinengewehrsalven. So entfalten sich in diesen kleinteiligen und dabei weitläufigen Anordnungen die Intimitäten des Innenlebens und zugleich die welthistorischen Dimensionen des Romans.
Eine Stimme zum Fürchten
In ihrem zweiten Teil leuchtet die Ausstellung den lebensgeschichtlichen Kontext des Romans aus. In Umrissen wird die Biografie Virginia Woolfs dargestellt. Man erhält Einblicke in den legendären Bloomsbury-Freundeskreis, und eine Galerie der Ahninnen öffnet literaturhistorische Perspektiven auf jene Dichterinnen, die Virginia Woolf vorausgingen. Einmal ist sie sogar zu hören, als sie für die BBC einen Vortrag liest: Ihre näselnde Stimme klingt sanft und etwas versnobt in einem. Da ahnt man, dass man sie lieben konnte und fürchten musste.
Schliesslich zeigt eine Serie von Porträtaufnahmen, wieso die Schriftstellerin eine Ikone der Mode wurde: Ihr Gesicht ist von einer hinreissend exzentrischen Schönheit, die mit geradezu viktorianischer Strenge kokettiert. 1937 fotografierte Man Ray dieses Inbild sinnlicher Intellektualität für das Cover des «Time Magazine».
Kein Bild aber zeigt mehr von Virginia Woolfs Seelenleben als jenes, das die ins Pariser Exil geflohene Fotografin Gisèle Freund 1939 von ihr gemacht hat: Auf dem Schoss öffnet ihre linke Hand ein Buch, in der rechten hält sie eine Zigarette am extravagant langen Mundstück; an der Wand hängt ein Bild ihrer Schwester Vanessa, der Blick jedoch ist verloren ins Leere gerichtet. Zwei Jahre später ist Virginia Woolf tot, zerrüttet von ihren inneren Dämonen, erschüttert von dem Krieg, der «Mrs. Dalloway» nur als dunkle Ahnung überschattet hatte. In London aber lag ihr Wohnhaus in Schutt und Asche.
«Dearest, I feel certain that I am going mad again», so beginnt sie ihren Abschiedsbrief an Leonard, sie spüre mit Gewissheit, dass wie wieder verrückt werde. Dann ertränkt sie sich im Flüsschen Ouse unweit ihres Landhauses in Rodmell.
Virginia Woolf & Mrs Dalloway. Museum Strauhof, Zürich, bis 18. Mai 2025.