Donnerstag, Oktober 10

Das «Katharinenfieber» in einem Festival macht Unmögliches möglich.

Ausgerechnet ein Phallus-Symbol! Und erst noch eines, das die Last trägt, die Jahrhunderte zu überbrücken. Das vierzig Meter hohe Gerüst, das noch bis Mitte Dezember in Zürich neben dem Fraumünster steht, soll nicht nur an die Bedeutung erinnern, die das einstige Nonnenkloster im Mittelalter besass.

Viel mehr noch ist die Installation eine Hommage an Katharina von Zimmern, die letzte Äbtissin des Klosters – und dazu an weitere 499 Zürcherinnen. Ihre Namen sind auf den grünen Bändern gedruckt, die das Gerüst umhüllen. Kurzum: Der Katharinenturm, wie er heisst, soll einflussreiche Frauen sichtbar machen. Sie sind im Gegensatz zu den Männern bisher kaum von öffentlichen Denkmälern geehrt worden. Der Turm ist eine von mehreren Initiativen, die das ändern.

Der Katharinenturm ist Teil des Zürcher Katharinenfestivals, das vor allem von Frauen aus kirchlichen Kreisen in die Wege geleitet worden ist. Der Anlass ist ein Jubiläum: 1524, vor fünfhundert Jahren, hat Katharina von Zimmern ihr Kloster der Stadt Zürich übergeben, die sich der Reformation angeschlossen hatte.

Die Regierung verbot die alte Religion, säuberte die Kirchen von heidnischem Tand, vertrieb die schmarotzenden Mönche und Nonnen. Auch das Fraumünster kam unter Druck. Es war eine der wichtigsten Ordensgemeinschaften. Der König des deutsch-römischen Reichs hatte ihm bedeutende Rechte verliehen, die Äbtissin war Reichsfürstin und sogar Stadtherrin. Sie setzte die Amtsträger ein.

Mit Rehaugen und hohen Wangenknochen

Wieso aber dankt die mächtige Frau 1524 freiwillig ab? Das Festival erzählt uns folgende Geschichte: Katharina von Zimmern fasst den weisen Entschluss, das Kloster aufzugeben, um so ein Blutvergiessen zu verhindern. Hätte sie sich geweigert, wären womöglich papsttreue Truppen in Zürich einmarschiert, und es wäre ein Bürgerkrieg ausgebrochen.

Mit ihrer weitsichtigen Tat erkennt die Äbtissin die Zeichen der Zeit. Sie stiftet für die Bevölkerung Frieden und ebnet der Reformation den Weg, die für Zürich, die Schweiz und Europa eine Zeitenwende bedeutet. Die marode Kirche mit ihrem Ablasshandel wird erneuert, Zürich entwickelt sich in der Folge zu einer wohlhabenden Stadt.

Gerne würde man natürlich wissen, wie die friedfertige und selbstlose Frau ausgesehen hat – keine Heldin ohne Gesicht! Weil von Katharina kein Porträt überliefert ist, haben die Organisatorinnen kurzerhand mit künstlicher Intelligenz ein auf alt getrimmtes Bild fabrizieren lassen, das unübersehbar auf der Website des Festivals prangt.

Demnach war die Äbtissin eine sehr attraktive Frau mit porzellanreiner Haut und seidig schimmerndem Haar, mit Rehaugen und hohen Wangenknochen. Über ihrer Brust hängt ein grosser Schlüssel – der Stadtschlüssel wohl, aber auch der Schlüssel zu Zürichs blühender Zukunft. Und vielleicht gar zu den Herzen der Betrachterin und des Betrachters?

Das «Katharinenfieber» macht Unmögliches möglich. Eine neue Stadtheilige wird inthronisiert, nachdem die Reformatoren die beiden alten Patrone Felix und Regula beseitigt haben.

Ein Blutbad konnte sie nicht verhindern

Was sagen Fachhistorikerinnen und Mediävisten zur Geschichtsdeutung des Festivals? Sie äussern Zweifel, aber hinter vorgehaltener Hand. Sie sagen, sie kennten die wenigen einschlägigen Quellen nicht. Niemand will Expertin sein; offenbar ist das Ereignis bisher fast nur von Kirchenhistorikern und Theologinnen erforscht worden. Und niemand will sich exponieren.

Wie jede Geschichte könnte auch die von der «visionären Äbtissin» anders erzählt werden. Zwar besitzt Katharina von Zimmern formal noch das Recht der Stadtherrin, doch schon ihre Vorgängerinnen sind nach und nach durch den Stadtrat entmachtet worden. Katharinas politischer Spielraum ist also begrenzt.

Weder konnte sie ein Blutbad verhindern noch der Reformation auf die Sprünge helfen. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als den Ratsentscheid zu akzeptieren, das Kloster aufzulösen. Nicht zuletzt profitierte sie davon: Nur sie darf dort ihren Wohnsitz behalten, zudem erhält sie eine grosszügige Pension. Die Fürstäbtissin kann ihr Herrinnenleben weiterführen.

Die aus Schwaben stammende Katharina von Zimmern gehört nämlich dem Hochadel an, wie die anderen Nonnen des Fraumünsterklosters auch. Die Frauen haben das Privileg, ein mehr als gutes Leben zu führen. Sie sind Teil der «leisure class», die nicht arbeiten muss, sondern auf Kosten der Untertanen existiert, der von ihr ausgebeuteten Bäuerinnen und Landleute. Diese Herrschaft wird durch die Caritas der Ordensgemeinschaften nicht angetastet, nur abgemildert.

Sicher war Katharina von Zimmern eine spannende Person. Nach allem, was ihre Biografinnen berichten, hatte die Äbtissin ein uneheliches Kind und eine Vorliebe für eidgenössische Söldnerführer. Sie betätigte sich als Kunstmäzenin und interessierte sich für den Humanismus. Aber die quasi staatsmännische und politikgeschichtliche Relevanz, die ihr das Festival zuschreibt, hatte sie wohl nicht.

Auch die Reformation, die das Festival als Fortschritt feiert, könnte alternativ gedeutet werden. Zwingli und Co. machen nicht bloss Schluss mit dem bunten Glaubensuniversum und dem Marienkult der Katholiken, sie beschneiden auch die weiblichen Lebensräume und Rechte.

Gemeinschaften wie das Fraumünsterkloster, in denen Frauen selbstbestimmt fast ohne männliche Aufsicht leben und dazu noch treiben können, was sie wollen, werden abgeschafft. Die Frau, so befinden die Reformatoren, gehöre in die Ehe und unter die Haube. Katharina, die alsbald heiratet, dürfte noch eine Weile den guten alten Zeiten nachgetrauert haben.

Einiges am Geschichtsbild des Festivals wirkt traditionell, ja restaurativ: die Frau als Friedensstifterin, die Reformation als Progress, Historie als Politikgeschichte. Die 2015 verstorbene Berner Historikerin Beatrix Mesmer hat einmal gesagt: Geschichte ist ein Identitätspolster. Die Menschen suchen sich aus der Vergangenheit aus, was ihnen passt, und richten sich behaglich in den von ihnen gebastelten Kulissen ein. Hauptsache, diese sind weich.

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