Sonntag, November 24

Achtung, Störung im Bahnhof! Die SBB wollen mit klassischer Musik gegen den Pendlerstau vorgehen. Kritiker monieren, dass die Massnahme ein perfides Ziel habe.

Pro Tag laufen 300 000 Menschen durch den Bahnhof Bern, den zweitgrössten Bahnhof der Schweiz. Ein Grossteil strömt durch den Haupteingang, der einem Flaschenhals gleicht. Links und rechts engen Restaurants den Weg für die Passanten ein. Just bei diesem Haupteingang treffen sich Randständige gerne zum gemeinsamen Trinken und Abhängen. Und schon länger heisst es, sie würden dadurch den Zugang zum Bahnhof versperren.

Die SBB haben im Frühling deshalb ein Projekt gestartet: Zwischen 8 und 22 Uhr wird der Eingangsbereich des Bahnhofs beschallt. Mit Arien, Sonaten oder Symphonien grosser Künstler wie Mozart, Tschaikowsky oder Beethoven. Die klassische Musik soll für mehr Durchgangsbewegung sorgen und weniger Pendlerstau. Denn auf Dauer wirke klassische Musik lästig. Die Leute würden so eher weiterlaufen, anstatt stehen zu bleiben.

Für die Kritiker hat das Projekt einen ganz anderen Hintergrund: Die SBB wollen die Randständigen mit nervtötender Musik vertreiben. So zumindest formulieren es die Gegner. Die kirchliche Gassenarbeit Bern etwa sagt, die klassische Musik sei laut und laufe in Dauerschleife. Und: «Klassische Musik soll Menschen in prekären Lebenslagen abschrecken.» Klassik gelte als Musik für «reichere Leute». Andere Gesellschaftsschichten hätten keinen Zugang zu diesem Genre.

Silvio Flückiger kennt die Situation am Bahnhof Bern. Er leitet Pinto, eine mobile Interventionsgruppe der Sozial- und Konfliktarbeit der Stadt. Die Eingangshalle am Bahnhof sei der inoffizielle Treffpunkt für die «Feierabendbier-Szene», wie Flückiger sie nennt. Es ist laut Flückiger eine gemischte Gruppe, zu ihr gehören Menschen mit Suchtproblemen. Manche haben eine Wohnung und eine Arbeit, andere nicht.

Der Treffpunkt der Szene habe sich seit Mitte Mai, dem Beginn des Musikprojekts, verlagert. Die «Feierabendbier-Szene» habe sich Richtung Heiliggeistkirche verschoben, direkt unter den Baldachin auf dem Bahnhofsplatz, 200 Meter vom Haupteingang entfernt.

Flückiger hat mit einigen aus der Szene gesprochen. Die meisten würden nicht wegen der Lautstärke der Musik klagen, sondern wegen der Musikrichtung. So, wie es die Gassenarbeit kritisiert.

Die Playlist für den Bahnhof Bern stammt von einer Agentur, wie eine SBB-Sprecherin sagt. Am Morgen lassen die SBB mehr Ambient spielen und am Abend, wenn es Zeit für ein Feierabendbier wird, tatsächlich mehr Klassik.

Die Vorwürfe der Diskriminierung streiten die SBB ab. Es sei nie um eine Vertreibung von Menschen gegangen. Man wolle vorläufig am Projekt festhalten. Die Sprecherin sagt, die Musik habe während der ersten drei Monate einen positiven Einfluss auf den «Personenfluss» gehabt. Einen Bericht dazu haben die SBB nicht.

Für die Gassenarbeit Bern ist es ein zynischer Erfolg. Armut lasse sich nicht durch die Bekämpfung der Armutsbetroffenen beheben. Es handle sich um Personen, die auf einen öffentlichen Treffpunkt angewiesen seien.

Auch Silvio Flückiger bezweifelt, dass die Randständigen dem Eingang langfristig fernbleiben. In den kalten Monaten sei die «Feierabendbier-Szene» auf den Haupteingang angewiesen, auf das Dach und den Schutz vor Kälte.

In La-Chaux-de-Fonds wurde das Projekt gestoppt

Andere Bahnhöfe in der Schweiz haben ähnliches wie in Bern probiert – mit unterschiedlichem Erfolg. In La Chaux-de-Fonds starteten die SBB vor zehn Jahren dasselbe Projekt. Die Bevölkerung kritisierte damals das Projekt. Besonders die Jugendlichen warfen den SBB vor, diskriminierend zu sein und Obdachlose zu verjagen. Ein Betroffener riss sogar einen Lautsprecher von der Decke. Das Projekt wurde gestoppt.

Anders sieht das in der Ostschweiz aus. Am Bahnhof Heerbrugg in der Gemeinde Au im Kanton St. Gallen läuft noch immer klassische Musik. Seit 2010 erklingen dort jeden Tag Mozart, Beethoven oder Vivaldi. Die Gemeinde führte die Massnahme ein, um das Areal sicherer und sauberer zu halten. Die Bevölkerung störte sich ab dem liegengelassenen Abfall und «den Gruppen», die am Bahnhof angeblich herumlungerten.

Auch in Heerbrugg gab es Kritik. Einige Jugendliche fühlten sich durch die Musik gedemütigt. Trotzdem ist das Projekt weitergeführt worden.

In Zürich werde seit Jahren mit Hintergrundmusik gearbeitet, jedoch nicht im Eingangsbereich, sagen die SBB. Ob auch in weiteren grösseren Schweizer Bahnhöfen wie Basel, Genf, Lausanne oder Luzern Projekte zur Beschallung der Bahnhöfe angedacht seien, prüfen die SBB je nach Situation.

Exit mobile version