Mittwoch, November 27

Die Hurrikans Helene und Milton haben im Südosten der USA verheerende Schäden angerichtet. Die Not wäre jedoch noch viel grösser ohne all die Einsätze von Freiwilligen. Gegenseitige Hilfe wurde in Amerika schon immer gross geschrieben.

Ende September kamen im Gefolge des Hurrikans Helene im Südosten der USA mindestens 247 Menschen ums Leben. Das machte ihn zum tödlichsten Hurrikan seit Katrina im Jahr 2005. Kurz darauf, am 9. Oktober, folgte der Hurrikan Milton, mit mindestens 16 Todesopfern. Die Schäden belaufen sich wie schon bei Helene auf etwa 40 Milliarden Dollar. Über 100 Häuser wurden zerstört, 2 Millionen Einwohner waren auch am Freitag noch ohne Strom, über 1000 Menschen sowie über 100 Tiere mussten gerettet werden.

Mit voll bepackten Maultieren in die Berge

Was bei solchen Katastrophen beeindruckt, ist die Hilfsbereitschaft vieler Menschen. So machten sich nach der Helene-Katastrophe Privatpersonen mit Helikoptern, Geländefahrzeugen und sogar Maultieren ins von der Aussenwelt abgeschnittene Asheville in den Blue Ridge Mountains von North Carolina auf, um die Bewohner mit dem Notwendigsten zu versorgen oder zu evakuieren. Manche mussten sich mit Motorsägen einen Weg zu den Eingeschlossenen bahnen.

Einige berichten, dass sie den Dreck noch nicht von ihren Schuhen gewischt hatten, als sie sich bereits wieder auf den Weg machten, um den Opfern von Hurrikan Milton zu Hilfe zu eilen. Eine Musikerin, Leslie Smith aus New Orleans, erzählte gegenüber Fox News, dass ihr 2005 nach dem Hurrikan Katrina ein Fan und seine Freunde aus North Carolina geholfen hatten. Fast zwanzig Jahre später kann sie auch Hilfe leisten. Sie beherbergt nun die Familie, deren Haus wegen des Hurrikans unbewohnbar ist, bei sich in New Orleans.

Das dezentrale, lokale Engagement ist oft schneller und effizienter als die staatlich organisierten Einsätze. Zwar verlegte die amerikanische Regierung über 10 000 professionelle Helfer ins Katastrophengebiet. «Aber sie brauchen oft drei, vier oder fünf Tage, bis sie vor Ort aktiv werden», sagte Andrew Everhart gegenüber den Medien, «während wir sofort loslegen können.» Everhart gehört zu einer Gruppe von Privatpiloten namens Altitude Project, die in kürzester Zeit 200 000 Dollar sammelte, um Hilfsgüter nach Asheville zu fliegen.

Die Grosszügigkeit derer, die kaum etwas haben

Die USA sind bekanntlich das Land der Philanthropie. Man ist zwar eher skeptisch gegenüber staatlicher Umverteilung und jeglicher Art von Sozialstaat, aber um so mehr wird von den Wohlhabenden erwartet, dass sie auf freiwilliger Basis grosszügig sind und für gemeinnützige Zwecke spenden. Das gilt nicht nur für die Reichen. Auch der Mittelstand engagiert sich oft sozial, mit Freiwilligenarbeit in der Kirche, in einer Wohlfahrtsorganisationen oder in Gassenküchen, wo Essen für Bedürftige ausgegeben wird.

Die «mutual aid», von der in den USA so oft die Rede ist, also die gegenseitige Hilfe, hat ihren Ursprung allerdings in der ärmeren Bevölkerung. Garrett Blaize, Direktor des «Appalachian Community Fund», der sich auch für die aktuellen Hurrikan-Opfer engagiert, sagte es kürzlich so: «Die Appalachen waren in ihrer Geschichte oft durch Knappheit und Mangel charakterisiert. Deshalb ist es bei uns ein zentraler kultureller Wert, dass man sich umeinander kümmert.»

Ähnlich äussert sich Tai Little von der Organisation SEAC Village in North Carolina. Die meisten Zuwendungen würden sich auf ein paar Dollar belaufen, sagt er. «Die Spender kommen meist aus der Arbeiterklasse. Sie wissen, was es heisst, zu leiden und sich nicht auf den Staat verlassen zu können.»

Solidarität während der Corona-Pandemie

Die Nachbarschaftshilfe war in den USA während der Corona-Pandemie bedeutend. So gab es zahlreiche Gruppen, die in der Anfangsphase Stoffmasken nähten und zusammen mit Desinfektionsmitteln verteilten. In vielen amerikanischen Städten verteilten junge Leute unter dem Banner «Adopt a Grandparent» oder «Zoomers for Boomers» Nahrungsmittel für den täglichen Bedarf an ältere oder kranke Leute, die unter Quarantäne standen.

Andere boten Babysitting und Unterricht für Kinder an, deren Schulen geschlossen waren, während die Eltern weiterhin zur Arbeit gehen mussten. Es gab sogar Sexarbeiterinnen, die Geld sammelten für Kolleginnen, die wegen der Ausgangssperre nicht anschaffen konnten.

Zahlreiche Freiwillige halfen in Indianer-Reservaten aus, in welchen die Pandemie besonders wütete. Viele dieser Helfer orientierten sich am Slogan «Solidarity, not Charity», der im Gefolge des Hurrikans Katrina populär geworden war, als die staatliche Hilfe auf sich warten liess. Der Ausspruch geht zurück auf den uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano, der schrieb: «Wohltätigkeit ist vertikal, sie geht von oben nach unten. Solidarität ist horizontal. Sie respektiert die anderen. Ich kann viel von ihnen lernen.»

Ursprünge bei den Afroamerikanern und Immigrantenvereinen

Wenn man noch weiter zurückgeht in der amerikanischen Geschichte, finden sich Anfänge der gegenseitigen Hilfe bei den Afroamerikanern. 1808 gründete der Abolitionist William Hamilton die New York African Society for Mutual Relief, die ihren Mitgliedern gegen einen monatlichen Beitrag eine Gesundheits- und Lebensversicherung, aber auch warme Kinderkleider, Alphabetisierung und Hilfe bei Notfällen bot. Bald folgten andere Vereinigungen von Landsleuten aus Europa, China und Südamerika diesem Vorbild, wie der Rechtswissenschafter Dean Spade in seinem Buch über «Mutual Aid» aufzeigt.

Mit Covid-19 und den immer häufigeren Klimakatastrophen erhielt die Solidarität neuen Aufschwung. Studien stützen deren Bedeutung. So zeigte eine Untersuchung zur fünftägigen Hitzewelle in Chicago im Jahr 1995, dass soziale Isolation ein wichtiger Faktor bei den 739 Todesopfern war. Auch jüngere Studien zeigen, dass die «soziale Infrastruktur» bei Katastrophen und Krisen überlebenswichtig ist, weil Informationen über Hilfsmöglichkeiten geteilt werden. Gerade für ältere oder behinderte Menschen, die keinen Zugang zu sozialen Netzwerken haben, ist es wichtig, mit Nachbarn vernetzt zu sein.

«Altruismus» boomt auch in den Wissenschaften

Es ist auffällig, wie sehr das Thema die Wissenschaft beschäftigt. In der Verhaltensökonomie, der Evolutionsbiologie und der Glücksforschung steht Altruismus schon länger im Zentrum des Interesses. In der Philosophie und den Sozialwissenschaften Selbstlosigkeit seit Jahren im Fokus. Für die Spieltheorie ist die Frage zentral, wie sehr «uneigennützige» Kooperation einem selbst und der Gruppe auf lange Sicht doch nützt. Auffällig ist: Der Altruismus boomt, während der Staat und die Privatwirtschaft von den aktuellen Klima-Desastern überfordert wirken.

Es heisst oft, dass in Katastrophenzeiten, wenn jeder um das eigene Überleben kämpft, unter dem dünnen Firnis der Zivilisation die Barbarei zum Vorschein komme. Es stimmt, dass nach dem Hurrikan Milton vor Plünderern, betrügerischen Reparaturhandwerkern und skrupellosen Bauunternehmern gewarnt wird. Aber in der Not wächst auch die Hilfsbereitschaft. In Krisen kommt das Schlechteste, aber auch das Beste im Menschen zum Vorschein.

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