Mittwoch, März 19

Der deutsche Bundeskanzler hält die Welt nach wie vor im Unklaren, warum er keine Marschflugkörper an die Ukraine liefern will. Bei einem Erklärungsversuch am Montag wiederholte er mehrdeutige Argumente, die deshalb nicht stichhaltiger geworden sind.

Der deutsche Bundeskanzler hat wieder einmal ein Lehrstück in besonders nebulöser politischer Semantik gegeben. Es sei ganz klar, sagte Olaf Scholz am Montag in Berlin, dass es keine deutschen Soldaten auf ukrainischem Grund geben werde. Er stehe dafür, dass es keine Verwicklung «unseres Landes» und seiner militärischen Strukturen in den Krieg in der Ukraine gebe. Deutsche Soldaten dürften sich daher nicht an der Zielsteuerung für den Taurus beteiligen. Ein Einsatz des Marschflugkörpers auf russischem Gebiet könnte dort als Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik gewertet werden.

In deutschen Medien hiess es daraufhin, Scholz habe erstmals erklärt, warum er die Lieferung von Taurus an die Ukraine ablehne. Doch das, was der Kanzler an der Veranstaltung in Berlin sagte, ist nicht neu. Im Gegenteil: Es waren bekannte Sätze, mehrdeutig und unklar formuliert, so dass sie nach wie vor breiten Interpretationsspielraum über die wahren Gründe seiner Haltung lassen. Die Analyse seiner Aussagen allerdings zeigt, dass zwei von drei wesentlichen Aspekten, die ein Nein begründen könnten, nicht wirklich stichhaltig sind.

Dabei handelt es sich zum einen um die völkerrechtliche und zum anderen um die technische Perspektive einer Taurus-Lieferung. Aus völkerrechtlicher Sicht entstünde eindeutig keine neue Qualität, wenn Deutschland der Ukraine den Taurus lieferte. So sagt es Matthias Herdegen, der als Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn lehrt. Er sieht in den von Scholz vorgetragenen Argumenten vielmehr eine «diffuse Mischung aus politischer Unwilligkeit und vagen rechtlichen Bedenken», bei denen man nicht wisse, ob sie nur auf Völkerrecht oder auch auf Staatsrecht verwiesen.

Deutschland würde nicht zur Kriegspartei

Selbst bei Lieferung «noch so komplexer Waffensysteme» an die Ukraine würde Deutschland nicht Kriegspartei, solange keine Bundeswehrsoldaten in dem Land eingesetzt würden, sagt Herdegen. Dies dürfte auch den Juristen der Bundesregierung bewusst sein. «Das Völkerrecht ist hier eindeutig. Ich glaube daher nicht, dass es im Kanzleramt eine andere Auffassung gibt», sagt Herdegen, der als einer der renommiertesten Völkerrechtler in Deutschland gilt.

Scholz hebt in seiner Argumentation besonders auf die Programmierung der Zieldaten für den Taurus ab. Das belegt sein Satz, deutsche Soldaten dürften sich nicht an der Zielsteuerung beteiligen. Aus der Sicht Herdegens ist auch dieses Argument völkerrechtlich nicht zu halten. Es gehe dabei einmal um Zieldaten, wie sie der Ukraine vom Westen bisher schon zur Verfügung gestellt würden, und um Geodaten, die «grundsätzlich erst einmal neutral» seien. Damit greife Deutschland nicht selbst in Kampfhandlungen ein.

Diese Einschätzung, sagt Herdegen, scheine auch in Frankreich und Grossbritannien vorzuherrschen. Beide Staaten liefern der Ukraine seit Sommer 2023 dem Taurus ähnliche Marschflugkörper und mutmasslich auch die dafür notwendigen Geländedaten. Mit diesen Daten werden die Flugpfade programmiert, also der Weg der Rakete bis zum Ziel. «Solange die Zielauswahl und damit die operative Entscheidung bei den Ukrainern liegt, ist es rechtlich unerheblich, ob dafür Bundeswehr-Soldaten auf deutschem Boden irgendetwas programmieren müssen», meint Herdegen.

Auch technische Argumente nicht stichhaltig

Auch die von Scholz verklausulierten technischen Aspekte einer Kriegsbeteiligung sind nicht stichhaltig. Ihm sei an der Aussage des Kanzlers besonders der Satz aufgefallen, dass es keine deutschen Soldaten auf ukrainischem Boden geben werde, sagte ein früherer Luftwaffenoffizier der NZZ, der während seiner Dienstzeit lange mit Taurus zu tun hatte. Scholz suggeriere mit dieser Aussage, dass dies beim Einsatz von Taurus nötig sei.

Doch das stimme nicht, sagt der Pensionär. Deutsche Soldaten müssten den Ukrainern lediglich beibringen, wie sie Taurus zu programmieren hätten. Das sei innerhalb von vier bis sechs Wochen zu schaffen und damit in deutlich kürzerer Zeit, als die Ausbildung ukrainischer Soldaten etwa an den Flugabwehrsystemen Iris-T und Patriot in Deutschland dauere. Voraussetzung sei die Verfügbarkeit von gut 30 Soldaten mit IT- und Englischkenntnissen, um den Taurus «schichtfähig» programmieren zu können. Bei der deutschen Luftwaffe gibt es für diese Aufgabe eine Spezialeinheit in Zugstärke (etwa 30 Soldaten).

Selbst die Zieldaten für den Taurus müssten nicht zwingend von Deutschland kommen. Der etwa 500 Kilometer weit reichende Flugkörper kann, wie auch der französische Scalp und der britische Storm Shadow, entweder über GPS oder über Geodaten gesteuert werden. Russland konnte in der Vergangenheit wiederholt GPS-gesteuerte Waffen stören und vom Kurs abbringen. Daher, so sagt der Luftwaffenpensionär, sei eine Programmierung mit Geodaten sicherer. Diese Daten könnten nicht nur deutsche, sondern auch amerikanische oder britische Erdbeobachtungssatelliten liefern.

Putin könnte Deutschland zur Kriegspartei erklären

Der einzige Aspekt, der die Ablehnung einer Taurus-Lieferung durch Scholz tatsächlich begründen könnte, ist daher weder rechtlicher noch technischer, sondern politischer Natur. Scholz, so entsteht der Eindruck, fürchtet, dass die russische Regierung den Taurus-Einsatz endgültig als deutsche Kriegsbeteiligung betrachten könnte, unabhängig davon, ob er vom Kriegsvölkerrecht gedeckt wäre oder nicht.

Im deutschen Kanzleramt herrscht möglicherweise die Auffassung, dass es nicht helfe, rechtlich auf der richtigen Seite zu stehen, wenn in Moskau das Kriegsvölkerrecht frei ausgelegt werde. Denn in der Argumentation Putins handelt Russland mit seiner «Sonderoperation» in der Ukraine präventiv und damit ebenfalls im Rahmen des Völkerrechts, um sich gegen «den Westen» zu wehren.

Scholz scheint demnach die Folgen zu fürchten, die eintreten könnten, wenn Putin Deutschland zur Kriegspartei erklärte. Auch davon zeugt ein Satz, den er am Montag geäussert hat. «Wir werden verhindern, dass es zu einem Krieg Russlands mit der Nato kommt», sagte der Bundeskanzler. Ob er davon ausgehe, dass Russland die Bundesrepublik dann angreifen und damit der Nato-Bündnisfall eintreten würde, darauf ging Scholz nicht ein.

Dafür aber wurde sein Misstrauen gegenüber den Ukrainern deutlich. Der Satz «Ein Einsatz von Taurus auf russischem Gebiet könnte dort als deutsche Kriegsbeteiligung gewertet werden» zeugt davon, dass er die Regierung in Kiew und ihr Militär für fähig hält, Absprachen zu brechen. Technisch wäre der Taurus in der Lage, von ukrainischem Gebiet bis Moskau zu fliegen. Doch auch Scalp und Storm Shadow könnten russisches Territorium erreichen. Bisher indes haben sich die Ukrainer an die Vorgabe gehalten, westliche Waffensysteme keinesfalls auf russischem Gebiet einzusetzen. Warum Scholz daran im Taurus-Fall zweifelt, sagte er ebenfalls nicht.

Von linker Parteirhetorik geprägt

Deshalb könnte es noch einen vierten Aspekt geben, der zu der ablehnenden Haltung des deutschen Kanzlers führt. Auch er klang am Montag an: «Dafür stehe ich auch, dass es keine Verwicklung unseres Landes und der militärischen Strukturen unseres Landes in diesen Krieg gibt. Das ist eine Verantwortung, die ich vor den Bürgern habe.» Diese Formulierung klingt stark von linker Parteirhetorik geleitet.

Scholz als der Anführer der Friedenspartei SPD, der Deutschland vor dem Krieg bewahrt – so möchte er sich möglicherweise im Hinblick auf die Landtagswahlen in Ostdeutschland im September und vielleicht auch schon im Hinblick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr positionieren. Die Äusserungen führender Repräsentanten des linken Flügels der SPD in den vergangenen Wochen lassen darauf schliessen, dass diese Vermutung nicht allzu weit von der sozialdemokratischen Realität entfernt sein dürfte.

Einer von ihnen ist Ralf Stegner. In der Taurus-Debatte vergangene Woche im Bundestag hatte er von einer «gefährlichen Mischung aus immer stärkerer Aufrüstung, Entfesselung der Rüstungsindustrie, Sozialkürzungen und womöglich Steuergeschenken für Grossverdiener», einem «Giftcocktail für die Demokratie und einem Energydrink für die Rechtsradikalen», gesprochen.

Doch wenn es einerseits seine Sorge vor Putins Reaktion gegenüber Deutschland und andererseits innenpolitische Gründe sind, die seine Haltung begründen, dann erweckt Scholz mit seinen Äusserungen einen Eindruck, der mindestens missverständlich ist. Völkerrechtliche und technische Aspekte gegen eine Taurus-Lieferung gibt es jedenfalls nicht. Es muss daher offenbleiben, ob Scholz am Montag lediglich in seiner oft kritisierten verschwurbelten Art über Taurus gesprochen hat. Oder ob er bewusst nebulös blieb, weil er sich alle Optionen offenhalten will. Wie sonst liesse sich seine Aussage, er werde einer Taurus-Lieferung «auf absehbare Zeit» nicht zustimmen, erklären?

Exit mobile version