Montag, September 30

Sie ist eine Tüftlerin und strebt in ihrer Heimat die WM-Medaillen Nummer 19 und 20 an: Die Zürcherin Flurina Rigling fühlt sich, als fehle ihr gar nicht so viel. Mit dem Parasport hat sie eine neue Welt entdeckt.

Als Kind wollte Flurina Rigling unbedingt auf einem Bein hüpfen. Wegen ihres Handicaps gelang ihr das nicht einfach so, also übte sie abends so lange, bis sie es schaffte. Auch beim Stricken probierte sie so lange, bis es funktionierte, und spannte die Strickware etwa in einen Schraubstock. Rigling hat wegen einer Genmutation an jeder Hand nur einen Finger und an den Füssen jeweils nur einen Zeh. Ihre Grifffähigkeit ist dadurch eingeschränkt, und sie kann die Wadenmuskulatur nicht einsetzen.

Seit Rigling denken kann, sucht sie Lösungen, anstatt ihre Grenzen zu sehen. Hindernisse zu überwinden, mag hart sein, «aber es bestärkt dich in der nächsten Situation, wenn du weisst, du hast es schon einmal geschafft», sagt sie. Dank dieser Einstellung ist sie mit 27 Jahren nicht nur eine der besten Paravelofahrerinnen der Welt auf der Strasse und der Bahn. Sie startet an den Rennen der Paracycling-WM in Zürich auch mit Material, dem jahrelange Arbeit vorausgegangen ist – eine ewige Abfolge von Testen, Entwickeln, Tüfteln, Verwerfen, Insistieren, Verbessern.

Rigling hat noch nie von jemandem mit dem gleichen Handicap gehört, und so gibt es auch keine Standardlösungen für ihre Hände und Füsse. Für den Schritt an die Weltspitze brauchte sie Spezialanfertigungen. Und sie machte sich auf die Suche.

Für die Konstruktion eines passenden Velolenkers nahm sie mit der ETH Kontakt auf. Sie kam zum Maschinenbauingenieur Luca Hasler, der die Entwicklung eines neuen Lenkers zu seiner Masterarbeit machte. Die Schwierigkeit: Nur Rigling konnte sagen, wie sich etwas für ihre Hand anfühlt. Und nur Hasler konnte das umsetzen. Stundenlang arbeiteten sie an Prototypen und näherten sich den optimalen Halterungen für die Hände. Nun liegen Riglings Hände in einer Schale am Lenker, in der sie mehr Halt hat als bei früheren Konstruktionen. So fühlt sie sich auf dem Velo sicherer und kann mit ihrem Finger besser schalten und bremsen.

Auch die Schuhe sind eine Herausforderung. Das gilt bereits für die Alltagsschuhe, von denen sie von der IV pro Jahr zwei Paar zugute hat. In den vergangenen Jahren aber seien keine guten Schuhe mehr produziert worden, weshalb sie immer noch mit demselben fünf, sechs Jahre alten Paar herumläuft.

Als Rigling im Radsport stärker wurde, liess sie sich ein Klicksystem an den Schuh anbringen. Im Training spürte sie aber sofort, dass das keine optimale Lösung war. Auf der Suche nach Verbesserung fehlten ihr vom Gegenüber oft das Verständnis, Interesse oder schlicht das Know-How. Bis sie auf Laurent Hoffmann stiess, einen Spezialisten für Orthopädietechnik, der das Problem erkannte und ihr mit den richtigen Kontakten helfen konnte. Der erste Spezialschuh aus Carbon war zwar eine starke Verbesserung, doch sehr klobig. «Ich war nie ganz zufrieden», sagt Rigling.

New Handlebars for the World Champion

Ein Paar Veloschuhe kostet 4000 Franken

Sie blieb mit Hoffmann in Kontakt, der ihr regelmässig das Velo einstellt – sie spürt jeden Millimeter Veränderung. Eines Tages erzählte ihr Hoffmann von der neuen Möglichkeit, einen Schuh im 3-D-Drucker herzustellen. Eine solche Fertigung bietet mehr Möglichkeiten, und die Produktion geht schneller, was für Flurina Rigling einen Riesenschritt bedeutet. 4000 Franken kostet das Paar, sie liess sich zwei Paare anfertigen.

Kurz vor den Paralympics in Paris spürte Rigling jedoch, dass der Schuh auf dem Zeitfahrvelo nicht so gut passt wie auf dem Strassenvelo, da ihre Position auf letzterem eine andere ist. Rigling sagt, man denke immer, man habe rechtzeitig alles zusammen. «Doch die Zeit reichte nicht, das so fein zu justieren. Die Suche nach Verbesserungen geht immer weiter.»

Immer neue Anpassungen, immer neue Herausforderungen. Immer neue Lösungen.

Der Parasport hat Flurina Rigling gelehrt, auf sich selber zu achten. Bei sich zu optimieren, anstatt ständig zu vergleichen. Das war nicht immer so einfach. Rigling hat seit der Kindheit immer viel Sport getrieben und geschaut. Sie lernte zwar früh, dass sie für das gleiche Resultat mehr investieren musste als andere, und sei es beim Hüpfen auf einem Bein. «Doch ich dachte immer: Mir fehlt ja gar nicht so viel. Auch, weil ich so selbständig war.»

Deshalb kostete es sie Überwindung, sich beim Behindertensportverband Plusport zu melden. Dort jedoch eröffnete sich ihr mit Anfang zwanzig eine neue Welt. Sie fühlte sich wohl, akzeptiert und traf auf Trainer, die ihr Talent rasch erkannten und förderten. Das war die Grundlage für ihren schnellen Aufstieg, bis heute hat sie 18 WM-Medaillen, 4 Welt- und Europameistertitel, den Gesamtweltcup und 2 Paralympics-Medaillen gewonnen. Daneben hält sie Vorträge und setzt sich so für den Parasport und die Inklusion ein.

Durch den Parasport hat sie auch eine Erklärung dafür gefunden, weshalb sie beim Regelsport, also beim Sport mit nicht beeinträchtigten Menschen, trotz harter Arbeit und Ehrgeiz nie ganz mithalten konnte. Für die Klassifizierung in ihre Kategorie C2 musste sie eine Reihe detaillierter Unterlagen zum Handicap einreichen, wurde dann angeschaut, auch auf dem Velo und im Wettkampf beobachtet.

Bis zu diesen Untersuchungen wusste Rigling nicht, dass sie ihre Wadenmuskulatur nicht einsetzen kann, beim Tritt auf dem Velo das Pedal also nur drücken, aber nicht ziehen kann. Das Fehlen dieses Ziehens entspreche im Radsport etwa 20 Prozent der Leistung pro Bein, hat Rigling ausgerechnet. Seither hat sich ihr Blick auf die eigenen Leistungen verändert, kann sie ihre Grenzen besser akzeptieren.

Folgt nun ein längerer Aufenthalt in Spanien – oder England?

Noch bleibt aber viel Raum für Verbesserung, zumal sie den Sport erst wenige Jahre so intensiv betreibt. Mit dem Abschluss des Olympiazyklus ist vieles zu Ende gegangen, die Zukunft offen. Zu den ungeklärten Fragen gehört auch das Finanzielle: Die Verträge mit Sponsoren und Ausrüstern muss sie neu verhandeln.

Rigling freut sich darauf, nach der WM mit ihrem engsten Umfeld zusammenzusitzen, zu dem drei Trainer, ihr Velomechaniker aus der Kindheit oder eine Sportpsychologin gehören. Eventuell verändert das Team auch den Trainingsansatz – momentan legt sie 14 000 Kilometer pro Jahr zurück, vor allem in der Region ihres Heimatdorfes Hedingen. Dazu kommen, vor allem im Winter, die Bahntrainings.

Das Studium in Politikwissenschaften hat sie in diesem Jahr mit einer Masterarbeit über den Vergleich der Inklusion von Parathletinnen und -athleten in Grossbritannien, Frankreich und der Schweiz abgeschlossen. Durch all diese Endpunkte ist die Gelegenheit günstig, um neben den technischen Feinheiten auch grundsätzlich am Leben zu tüfteln. Gerne würde Rigling das Training mit Spanischlernen verbinden. Oder einmal in England leben, wo Pararennen eine grössere Tradition haben. Dort könnte sie drei Zeitfahren pro Woche absolvieren. Es geht immer weiter.

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