Irans Angriff mit 180 ballistischen Raketen wurde zwar weitgehend abgewehrt, doch Israel schwört Vergeltung. Droht dem Nahen Osten nun ein grosser Krieg? Eine Analyse.
Es war ein regelrechter Feuerregen, der am Dienstagabend über Israel niederging – und vielleicht nur ein Vorspiel dessen, was in nächster Zeit noch auf den Nahen Osten zukommen könnte. Nachdem Israel in den vergangenen Tagen in atemberaubendem Tempo die mit Iran verbündete libanesische Schiitenmiliz Hizbullah dezimiert hatte, hat nun auch Teheran seine Zurückhaltung abgelegt und geht in die direkte Konfrontation mit dem jüdischen Staat.
Laut israelischen Angaben feuerte Iran rund 180 ballistische Raketen auf Israel. Dabei hat es nach ersten Erkenntnissen erstmals auf seine modernsten präzisionsgelenkten Geschosse, wie etwa die Fattah-1, zurückgegriffen. Iran liess verlauten, man habe drei Militärbasen in Israel sowie das Hauptquartier des israelischen Geheimdienstes Mossad angegriffen.
Gemäss der israelischen Armee wurde eine grosse Zahl der Raketen abgefangen, auch mithilfe der USA. Dennoch scheinen zahlreiche Projektile den israelischen Abwehrschirm überwunden zu haben. Videos in den sozialen Netzwerken zeigten mehrere Einschläge in der Nähe der Luftwaffenbasis Nevatim im Süden Israels sowie nahe dem Mossad-Hauptquartier in Tel Aviv. Ausserdem wurde ein Schulgebäude in der Stadt Gedera in Zentralisrael getroffen.
Auch die Armee gestand am Dienstagabend ein, dass es «isolierte Einschläge» gegeben habe. Die etwas kryptische Formulierung eines Armeesprechers, dass der Angriff keine Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Luftwaffe gehabt habe, lässt darauf schliessen, dass zumindest die Basis Nevatim wohl stärker beschädigt wurde als offiziell bekannt. Bis anhin gibt es jedoch keine Berichte über Todesopfer in Israel. Allerdings wurde im Westjordanland ein palästinensischer Mann durch herabfallende Trümmer getötet.
In Israel, wo Millionen Menschen den Abend in Schutzräumen verbringen mussten, wurde nach wenigen Stunden Entwarnung gegeben. Auch der Flugbetrieb wurde nach einem kurzen Unterbruch noch am Dienstagabend wieder aufgenommen. Dennoch stehen dem Nahen Osten kritische Tage bevor. Die Frage drängt sich auf: Kommt es nun zum grossen Krieg zwischen Israel und Iran?
Wie wird Israel reagieren?
Bereits am Dienstagabend sagte der israelische Ministerpräsident, Iran habe einen grossen Fehler gemacht und werde dafür bezahlen. «Das iranische Regime hat kein Verständnis für unsere Entschlossenheit, uns zu verteidigen und Vergeltung an unseren Feinden zu üben.» Die USA deuteten gar an, Israel dabei unterstützen zu wollen. So sagte Jake Sullivan, der Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden: «Dieser Angriff wird schwerwiegende Folgen haben, und wir werden mit Israel zusammenarbeiten, um dies sicherzustellen.»
Noch ist unklar, wie die israelische Reaktion auf den Angriff ausfallen wird. Es gibt freilich einen Präzedenzfall: Schon im April hatte Iran rund 300 Raketen und Drohnen auf Israel abgefeuert, um sich für einen israelischen Angriff auf die iranische Botschaft im syrischen Damaskus zu rächen. Die Reaktion Israels fiel damals eher symbolisch aus: Es beschoss eine Luftwaffenbasis in der Nähe von iranischen Atomanlagen, ohne diese selbst anzugreifen.
Nun allerdings dürfte Israels Gegenschlag sehr viel heftiger ausfallen. Denn einerseits drängen die Amerikaner nun anders als im April nicht mehr auf Zurückhaltung. Und andererseits ist der libanesische Hizbullah, der mit seinem Raketenarsenal nicht zuletzt Israel von direkten Angriffen auf Iran abhalten sollte, so stark geschwächt, dass er Teheran wohl kaum wirksam beistehen könnte.
So ist es denkbar, dass Israel diesmal einen direkten Schlag gegen das iranische Atomprogramm wagen könnte. Ein mögliches Ziel wäre die Nuklearanlage bei Natanz, das eine wesentliche Rolle bei der Anreicherung von waffenfähigem Uran spielt. Israel verfolgt seit Jahren das Ziel, Teherans Nuklearstrategie – die zumindest bisher noch keine Atombombe hervorgebracht hat – zu durchkreuzen. Womöglich hat Iran mit seinem Angriff vom Dienstag Israel dafür eine Steilvorlage geliefert.
So sprach der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett gar von der «grössten Gelegenheit seit fünfzig Jahren», den Nahen Osten zu verändern. Iran habe einen schweren Fehler begangen: «Wir müssen jetzt handeln, um das Atomprojekt zu zerstören, die wichtigsten Energieanlagen zu vernichten und dieses Terrorregime schwer zu treffen.» Die Netanyahu-Regierung lässt sich bis anhin zwar nicht in die Karten blicken – doch es scheint ausgemacht, dass die Konfrontation der beiden Regionalmächte demnächst eine neue Stufe erreichen wird.
Teheran gibt sich kämpferisch
Auch aus Iran kommen derweil martialische Töne. In einer Mitteilung warnten die iranischen Revolutionswächter Israel vor einem Gegenschlag: «Wenn das zionistische Regime auf die iranischen Operationen reagiert, wird es mit vernichtenden Angriffen konfrontiert sein.» Ayatollah Ali Khamenei, Irans religiöses Oberhaupt, veröffentlichte eine Zeichnung eines unterirdischen Raketenlagers und schrieb dazu: «Der Sieg kommt von Allah, und er ist nahe.»
Mit seinem Angriff hat sich Iran laut eigenen Angaben für die Tötung des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah, weiterer Kaderleute der Schiitenmiliz sowie eines Kommandanten der Revolutionswächter in Beirut am 27. September gerächt. Auch der Anschlag auf den Hamas-Chef Ismail Haniya in Teheran von Ende Juli sei nun vergolten, hiess es. Zuvor war lange spekuliert worden, ob sich Iran überhaupt zu einem Racheakt hinreissen liesse.
Denn einerseits entspricht es der iranischen Doktrin, bewaffnete Konflikte vom eigenen Territorium fernzuhalten und stattdessen verbündete Milizen wie den Hizbullah, die Hamas oder die Huthi in den Kampf zu schicken. Und andererseits käme dem Land, das in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, ein offener Krieg äusserst ungelegen. So sind viele Experten nach wie vor davon überzeugt, dass Iran eigentlich keine Eskalation will.
نَصرٌ مِنَ الله و فَتحٌ قرِيب… pic.twitter.com/l53SfjEslF
— KHAMENEI.IR | فارسی 🇮🇷 (@Khamenei_fa) October 1, 2024
Die Hardliner haben sich durchgesetzt
So war in den vergangenen Tagen im iranischen Regime ein Streit darüber ausgebrochen, wie und ob man überhaupt auf die jüngsten Rückschläge für die von Teheran geführte «Achse des Widerstands» reagieren soll. Laut Medienberichten hatte insbesondere Irans neuer Präsident Masud Pezeshkian für Zurückhaltung plädiert und vor den verheerenden Folgen einer direkten Konfrontation gewarnt. Er soll einen Angriff gegen Israel als eine Falle bezeichnet haben, die Benjamin Netanyahu gelegt habe, um einen grossen Krieg gegen Iran starten zu können. Zuletzt hatte Pezeshkian vor der Uno noch dafür geweibelt, die Spannungen zwischen Iran und dem Westen abzubauen.
Jetzt scheinen sich allerdings die Hardliner im iranischen Regime durchgesetzt zu haben. Augenscheinlich ist die Führung um Khamenei zur Überzeugung gelangt, dass Untätigkeit Iran teurer zu stehen kommen würde als ein direkter Angriff auf Israel. Teheran scheint darauf zu hoffen, dass es Israels Feldzug gegen den Hizbullah unterbinden kann. Und nicht zuletzt dürfte es sich bei dem Angriff vom Dienstag um einen Versuch des Regimes handeln, innerhalb der Achse des Widerstands das Gesicht zu wahren.
Mutmasslich spekuliert Iran nun darauf, Israel abgeschreckt zu haben. Teherans Kalkül könnte allerdings nach hinten losgehen. Israel hat in den vergangenen Tagen gezeigt, dass es sich nicht mehr abschrecken lassen will. Selten stand der Nahe Osten so nahe vor einem Flächenbrand wie jetzt.