Mittwoch, Dezember 4

Einst paktierte der Milizenführer mit den Terroristen von al-Kaida und dem Islamischen Staat. Heute versucht er die Welt davon zu überzeugen, dass er kein Paria sei. Doch es gibt berechtigte Zweifel an Julanis Sinneswandel.

«Wir werden, so Gott will, als Befreier in Aleppo einmarschieren», sagt der bärtige Mann in der olivgrünen Uniform in den Telefonhörer. Es ist Freitag, der 29. November, und Mohammed al-Julani kann zufrieden sein. Die Kämpfer seiner islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) stehen nach einer zweitägigen Blitzoffensive kurz davor, die nordsyrische Handelsmetropole Aleppo einzunehmen. In dem Video, das Julani verbreiten lässt, geriert sich der Warlord als Heilsbringer, der seinen Truppen verkündet, dass «die Unterdrückung unseres Volkes» nun beendet werde.

Tatsächlich ist es den HTS-Rebellen zum ersten Mal seit Jahren gelungen, dem Diktator Bashar al-Asad weite Gebiete im Nordwesten Syriens zu entreissen. Aleppo ist inzwischen gefallen. Nun rückt die Gruppe gemeinsam mit verbündeten Milizen auf Hama vor, wo sie allerdings erstmals auf nennenswerten Widerstand der Asad-Truppen gestossen ist.

Unter Asads Gegnern – und von diesen gibt es viele – löst der überraschende Vormarsch der HTS allerdings gemischte Gefühle aus. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Kämpfe Erinnerungen an die schlimmsten Zeiten des syrischen Bürgerkriegs wecken, sondern auch mit der HTS und ihrem Anführer Mohammed al-Julani. Die Aussicht auf ein Leben unter der stramm islamistischen Truppe dürfte gerade bei religiösen und ethnischen Minderheiten die Freude über die «Befreiung» trüben.

Die HTS regiert mit eiserner Faust

Der Kriegsherr Julani weiss um sein Image. In den vergangenen Tagen schien er bemüht, die Sorgen zu zerstreuen. Am Freitag hielt er seine Kämpfer in einer Mitteilung dazu an, gegenüber der Bevölkerung von Aleppo Gnade walten zu lassen. «Fällt keine Bäume, erschreckt keine Kinder und flösst unserem Volk, gleich welcher Religion, keine Angst ein», hiess es in dem Schreiben, das für maximale Aussenwirkung auch auf Englisch übersetzt wurde. Doch an der zur Schau gestellten Weltoffenheit des Milizenführers gibt es berechtigte Zweifel. Wer ist der Mann, auf den die USA ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt haben?

Mohammed al-Julani hatte sich einst der Terrororganisation al-Kaida angeschlossen, um ab 2003 im Irak gegen die amerikanischen Besatzungstruppen zu kämpfen. Angeblich verbrachte er danach mehrere Jahre in amerikanischen Militärgefängnissen. Doch nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 tauchte er plötzlich wieder in Syrien auf, wo er im Auftrag von Abu Bakr al-Baghdadi, dem späteren Anführer des sogenannten Islamischen Staates (IS), die islamistische Nusra-Front gründete.

Doch der «globale Jihad», den die Kaida und der IS propagierten, schien Julani zu widerstreben. 2016 brach er mit den beiden Terrororganisationen, um sich stärker auf die Machtkämpfe in Syrien fokussieren zu können. Ein Jahr danach entstand aus dem Zusammenschluss fünf islamistischer Milizen die HTS, die Organisation zur Befreiung der Levante, die in der Rebellenhochburg Idlib unter Julanis Ägide faktisch die Herrschaft übernahm.

Während die HTS gegen das Asad-Regime kämpfte, regierte es im Innern als sogenannte Syrische Heilsregierung (SSG) mit eiserner Faust. Politische Gegner und Journalisten wurden verhaftet, getötet und gefoltert, Proteste gewaltsam unterdrückt. Im Jahr 2018 stuften die USA die Miliz schliesslich als Terrororganisation ein, was die wirtschaftlichen Möglichkeiten und den Zugang zu internationaler Hilfe stark begrenzte. Dies war ein Problem für die HTS, da 75 Prozent der zwei Millionen Bewohner der Provinz Idlib auf humanitäre Lieferungen angewiesen sind.

Islamisten gegen Islamisten

Deshalb versuchte Julani in den vergangenen Jahren, sich und seiner Gruppe einen moderateren Anstrich zu geben. Gegen aussen stellte er sich als fürsorgliche Vaterfigur dar, der während des Ramadan gemeinsam mit Waisenkindern das Fastenbrechen zelebrierte, auch gegenüber den Christen und den Drusen die Hand ausstreckte und die Macht der Moralpolizei einschränkte. Indem sich einige Behörden der SSG vordergründig von der HTS distanzierten, ermöglichten sie zudem eine verstärkte humanitäre Zusammenarbeit mit Partnern wie der Unicef und anderen Hilfsorganisationen.

Gleichzeitig begann die HTS eine grossangelegte Kampagne, um gegen die Überreste der Kaida und des IS aus Idlib vorzugehen, wofür die Miliz auch mit moderateren Rebellengruppen kooperierte. In Interviews kritisierte Julani, die Einstufung seiner Miliz als Terrororganisation sei «unfair». Die HTS wende zwar islamische Gesetze an, «aber nicht nach dem Standard des IS oder sogar Saudiarabiens».

Der vermeintliche Sinneswandel der HTS hat einige Beobachter dazu veranlasst, für einen pragmatischeren Umgang mit der Miliz zu plädieren, etwa um die Versorgung der Menschen in Idlib zu verbessern. Andere Experten weisen darauf hin, dass die Miliz mit ihrer Strategie der Mässigung primär das Ziel verfolge, ihren Einfluss zu konsolidieren. Mohammed al-Julani dürfte sich deshalb in seinem Eroberungsfeldzug nur gerade so lange weltoffen und tolerant geben, wie es ihm nützt.

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