Freitag, Januar 31

Wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ wurde Österreich vor 25 Jahren isoliert. Der Eklat war perfekt, doch die Sanktionen erwiesen sich als kontraproduktiv. Die Folgen wirken bis heute nach.

Den ganzen Tag über hatten die Aussenminister der EU-Mitgliedsstaaten an jenem 31. Januar 2000 verhandelt. Erst als es draussen schon dunkel war, trat der Portugiese Jaime Gama, dessen Land den EU-Vorsitz innehatte, endlich vor die Medien – ganz unprätentiös in einem Korridor des Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäudes. Höchstens zwei Dutzend Journalisten waren noch anwesend, mit einer «Bombe» hatte niemand gerechnet.

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Doch das, was Gama in den folgenden Minuten von einem Blatt Papier ablesen sollte, war an politischer Sprengkraft kaum zu überbieten. Die Regierungen der vierzehn EU-Mitgliedsstaaten würden «keinerlei offizielle bilaterale Kontakte auf politischer Ebene mit einer österreichischen Regierung unter Einbindung der FPÖ betreiben oder akzeptieren», sagte der Aussenminister in holprigem Englisch. Österreichische Kandidaten für internationale Posten würden nicht mehr unterstützt und die österreichischen Botschafter in den EU-Hauptstädten nur noch auf «technischer Ebene» empfangen.

Diese Strafmassnahmen gingen als «EU-Sanktionen» in die Geschichte ein. Dass dies bestenfalls halb korrekt war, änderte daran nichts. Denn nicht die EU als Institution, sondern die einzelnen Mitgliedstaaten hatten sie beschlossen – zwar gemeinsam, aber formell auf bilateraler Ebene. Aus völkerrechtlicher Sicht handelte es sich zudem «lediglich» um einen unfreundlichen Akt, nicht um Sanktionen.

Für die noch junge EU war es eine Zeitenwende: Nie zuvor hatte der Staatenbund sich um seine Grundwerte in einem Mitgliedstaat zu sorgen gehabt. Nun aber war die Büchse der Pandora geöffnet – und sollte nie mehr geschlossen werden. Am 4. Februar 2000 traten die Massnahmen in Kraft, gleichzeitig mit der Vereidigung der neuen österreichischen Regierung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel.

Schreckgespenst Haider

Auch in Wien war es ein denkwürdiger Tag. Auf dem Ballhausplatz demonstrierten Tausende, es flogen Eier und Flaschen. Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik musste eine Regierungsmannschaft deshalb unterirdisch vom Kanzleramt die wenigen Schritte hinüber in die Hofburg gelangen. Dort nahm der Bundespräsident Thomas Klestil die Zeremonie demonstrativ missmutig vor.

Es war zwar nicht die erste Regierungsbeteiligung der FPÖ, aber die erste seit der rechtspopulistischen Wende unter Jörg Haider. Für Österreich war «Schwarz-Blau I» ein Tabubruch.

Vier Monate zuvor, bei den Wahlen vom 3. Oktober 1999, hatten die Freiheitlichen den zweiten Platz erreicht und damit erstmals eine der beiden Traditionsparteien SPÖ und ÖVP überholt. 415 Stimmen Vorsprung hatten sie zwar nur auf die konservative ÖVP, dennoch war das Ergebnis ein Schock nicht nur für die Republik. Haiders Populismus, seine EU-Kritik und seine Fremdenfeindlichkeit waren damals neu für Europa. Über die Landesgrenzen hinaus galt er als Schreckgespenst.

Das war auch einer der Gründe, warum Klestil eine Regierungsbeteiligung von Haiders Partei unbedingt verhindern wollte. Er beauftragte die Wahlsiegerin SPÖ mit der Regierungsbildung. Doch die Gespräche mit der ÖVP scheiterten im Januar an den Finanzen und dem Streit um eine Pensionsreform. In kurzer Zeit einigten sich die Konservativen danach mit der FPÖ, wobei diese Schüssel das Kanzleramt überliess und Haider zur Beruhigung des Auslands auf ein Regierungsamt verzichtete.

Die damalige Stimmung könne man sich heute nicht mehr vorstellen, erzählt Ursula Plassnik, damals die Kabinettschefin Schüssels und eine seiner engsten Mitarbeiterinnen. «Zehntausende blockierten jeweils den Zugang zu den Regierungsgebäuden», sagt sie in Anspielung auf die ständigen Demonstrationen in der Wiener Innenstadt. Selbst aus dem eigenen Umfeld erlebte sie in dieser fiebrigen Atmosphäre Anfeindungen. «Du traust dich hierher?», habe sie eine Bekannte gefragt, die ihr beim Laufen im Prater begegnet sei.

Als härter und zuweilen sogar traumatisch bezeichnet die spätere Aussenministerin aber die Sanktionen der EU-Staaten. Sie hat unter anderem am Collège d’Europe in Brügge studiert und hat ein fast verklärt positives Bild der EU. «Die europäische Integration ist eine einzigartige Chance für diesen Kontinent. Es ist ein Glücksfall, dass wir es mit friedlichen Mitteln nochmals versuchen dürfen nach Jahrhunderten der Kriege», sagt die Diplomatin im Gespräch.

Die Massnahmen seien nicht nur rechtswidrig gewesen, sondern auch politisch dumm. «Ich war entsetzt über die Verantwortungslosigkeit mancher europäischer Regierungschefs und ihre Art, mit einem Mitgliedstaat umzugehen», sagt sie.

Aus dem Nichts kamen die Sanktionen allerdings nicht. Mehrere europäische Spitzenpolitiker hatten Schüssel vor der Bildung einer Koalition mit der FPÖ gewarnt – wobei die treibenden Kräfte liberale und konservative Politiker waren. Der stärkste Druck kam von der belgischen Regierung unter Guy Verhofstadt und vom französischen Präsidenten Jacques Chirac. Dieser drohte Schüssel schon bei einem OSZE-Gipfel im November 1999 weitreichende Konsequenzen an, wie es im Buch «Eine europäische Affäre» der österreichischen Journalisten Margaretha Kopeinig und Christoph Kotanko heisst. Niemals werde er eine Koalition mit Haider eingehen, soll ihm Schüssel versichert haben.

Nicht hilfreich war, dass Haider gewohnt angriffig auf die Bedenken reagierte. Bei der Feier zu seinem 50. Geburtstag Ende Januar höhnte er, Chirac habe in den vergangenen Jahren «so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann». Und Österreich verlange ja auch nicht die «Ablösung einer korrupten Regierung wie in Belgien».

Dennoch ging etwa Franz Fischler, der damalige EU-Kommissar Österreichs, noch von blossen Drohgebärden aus. «Nie hätte ich zu diesem Zeitpunkt geglaubt, dass die Mitgliedsstaaten Ernst machen würden», erinnert er sich. Doch obwohl Österreichs neue Regierung dem Koalitionsvertrag in einer Präambel ein Bekenntnis zur EU voranstellte und der überzeugte Proeuropäer Schüssel sie in Brüssel vertrat, beschlossen sie in den letzten Januartagen die Massnahmen. Das Ziel war knallhart: Sie sollten die Regierung in Wien «auf das Schnellste zerschlagen», wie es der damalige belgische Aussenminister Louis Michel formulierte.

Sanktionen als Marketinginstrument

Thomas Mayer, damals wie heute EU-Korrespondent der österreichischen Zeitung «Der Standard», war einer der wenigen Journalisten, die die Sanktions-Ankündigung der portugiesischen Ratspräsidentschaft live miterlebten. Schnell war ihm die Brisanz klar. Smartphones und soziale Netzwerke gab es damals nicht, das Internet befand sich im Anfangsstadium. Also rief er noch aus dem Europa-Gebäude die Redaktion in Wien an – doch für eine Anpassung der Schlagzeile auf der Frontseite war es schon zu spät.

Der Sturm der Entrüstung folgte auch so. Wie wagt es die EU, Sanktionen gegenüber einem Mitgliedstaat zu ergreifen?, so der Tenor. In der österreichischen Öffentlichkeit etablierte sich rasch diese Bezeichnung – und zwar erheblich von der offiziellen Kommunikation der schwarz-blauen Regierung gesteuert. Geschickt hatte sie erkannt, dass sich mit der konsequenten Verwendung des Wortes «Sanktionen» Stimmung machen liess.

«Franz, they are all crazy»

Fischler, der österreichische EU-Kommissar, geriet derweil zwischen Hammer und Amboss. «In Wien musste ich stets erläutern, warum die Mitgliedsstaaten diese Massnahmen beschlossen hatten. Und in Brüssel bemühte ich mich zu erklären, dass Österreich kein rechtsradikales Land geworden war», sagt er heute.

Immerhin konnte er sich der Rückendeckung seiner Kollegen sicher sein. Denn in der EU-Kommission verstand niemand die Schritte, welche die Mitgliedstaaten beschlossen hatten. «In den Sitzungen wurde ich von meinen Kollegen jeweils bedauert. Einer sagte mir gar: ‹Franz, they are all crazy›», erzählt er und windet vor allem dem damaligen Kommissionspräsidenten Romano Prodi ein Kränzchen.

Dieser habe allen Generaldirektionen die klare Anweisung gegeben, dass man den bisher üblichen Umgang mit österreichischen Mitarbeitern und Gästen beibehalten solle. Nichts also von gekünstelter Distanz – eine der wichtigsten EU-Institutionen desavouierte gewissermassen die eigenen Mitgliedstaaten.

Der EU-Korrespondent Mayer durchlebte seinerseits eine der spannendsten Zeiten seiner Karriere. In der österreichischen Heimat habe man Mitgefühl gehabt – in der Annahme, dass er in Brüssel nunmehr isoliert und gar geächtet sei. Das Gegenteil sei der Fall gewesen, erzählt er heute. Er könne sich an keinen einzigen Moment der Ablehnung erinnern, wobei dabei auch mitspielte, dass «Der Standard» als linksliberales Blatt nicht als Sprachrohr der Regierung wahrgenommen wurde. Kollegen und er hätten einst gar gezielt Belgier gesucht, die Österreicher beschimpften – ohne Erfolg. Dabei hatte der belgische Aussenminister Michel sogar das Skifahren in Österreich für unmoralisch erklärt.

Auf Regierungsebene erlebte Plassnik aber durchaus demütigende Szenen. Wenn die österreichische Delegation beim Europäischen Rat eingetroffen sei, hätten Teilnehmer manchmal demonstrativ die Arme auf den Rücken gelegt, um nicht beim Händeschütteln fotografiert zu werden, erinnert sie sich. Lächerlich nennt sie das Verhalten.

Man habe versucht, die Situation in den Hauptstädten zu erklären. Aber viele hätten ihre eigenen innenpolitischen Motive gehabt, sagt Plassnik und meint damit das Erstarken von rechtspopulistischen Kräften wie etwa dem Front national in Frankreich. «Vordergründig ging es um Österreich, in Wahrheit aber um die Zukunft im eigenen Land.»

Drei «Weise» als Exit-Strategie

Doch die Verstimmung währte nicht lange. Einige Mitgliedstaaten erkannten rasch, dass die Massnahmen kontraproduktiv waren: In Österreich gewann die Regierung an Rückhalt, und gleichzeitig wuchs die EU-Skepsis – auch in anderen Ländern. Schon am Gipfeltreffen vom März regte Finnland eine Exit-Strategie mit einer «Beobachtungszeit» an, im Juni schliesslich gewann Portugal die übrigen EU-Staaten für eine Lösung, bei der alle das Gesicht wahren konnten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – keine EU-Institution – sollte einen «Weisen-Bericht» in Auftrag geben. Die drei Experten unter der Leitung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari stellten fest, dass die FPÖ zwar eine «populistische Partei mit radikalen Elementen» sei, die Regierung aber ihre Verpflichtung für die europäischen Werte erfülle. Sie schlugen deshalb vor, die Massnahmen zu beenden.

Ohne ein einziges ihrer Ziele erreicht zu haben, wurden die Sanktionen am 12. September 2000 aufgehoben. «Ich habe das Datum zu meinem persönlichen Nationalfeiertag erklärt», sagt Plassnik. Die Zeit sei ein Stresstest für die Republik gewesen, den diese aber bestanden habe. Ihr Vertrauen in die EU erschütterte sie nicht. «Im Gegenteil. Mir wurde bewusst, dass diese Union keine Selbstverständlichkeit ist und man um sie kämpfen muss.» Nie wieder sollte so etwas passieren, schwor sich Plassnik damals.

Geburt des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens

Ein Hauptproblem war, dass die Massnahmen keine rechtliche Basis hatten und die europäische mit der bilateralen Ebene vermischt wurde. Einen Mechanismus, mit dem präventiv auf drohende Verletzungen der Grundwerte in einem Mitgliedstaat reagiert werden konnte, gab es in den EU-Verträgen damals noch nicht. Der Weisen-Bericht regte deshalb eine Überarbeitung des Artikels 7 an, der heute im sogenannten Rechtsstaatlichkeitsverfahren «echte» Sanktionen bis zur Suspendierung der Mitgliedschaft ermöglicht. Plassnik war eine Mitautorin der neuen Bestimmung.

Zwei Mal wurde seither ein Verfahren auf dieser Basis eingeleitet, 2017 gegen Polen und ein Jahr später gegen Ungarn. Es erwies sich aber als stumpfes Schwert, weil es für Strafmassnahmen der Einstimmigkeit der Mitglieder bedarf. Für ein Rechtsbündnis wie die EU wird das Instrument von Experten dennoch als Fortschritt gesehen.

Die Parallelen der damaligen Ereignisse zur Gegenwart sind derweil frappant: In Österreich steht die FPÖ erneut unmittelbar vor einer Regierungsbeteiligung, und erstmals würde sie dabei mit Herbert Kickl auch den Kanzler stellen. Nach 25 Jahren wäre es der nächste Tabubruch. Mit Sanktionen ist dennoch nicht zu rechnen. Die EU hat sich längst an Rechtspopulisten an der Macht gewöhnt.

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