Sonntag, März 16

Geleitet vom Geld tummeln sich die meisten Profi-Alpinisten an Bergen, die jeder kennt. Und dann gibt die Wenigen, für die Herausforderung mehr zählt als Ruhm. Ein waghalsiges Abenteuer zweier Freunde im Glarnerland.

Profibergsteiger, lautet ein verbreitetes Klischee, müssten sich immer verrücktere Projekte suchen, um ihre Sponsoren zufriedenzustellen oder die Öffentlichkeit zu begeistern. Die Gier nach Aufmerksamkeit treibe sie dazu, immer höhere Risiken einzugehen. Die Geschichte von Michael Wohlleben und Lukas Hinterberger zeigt: Das Klischee ist auf fast groteske Weise falsch.

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Die beiden Bergführer fuhren vor einigen Jahren mit dem Auto in der Ostschweiz von Tal zu Tal, um eine unbestiegene Eislinie zu finden. Oberhalb des Klöntalersees am Pragelpass erblickten sie in einer 1800 Meter hohen Steilwand am Glärnischmassiv eine Route durch Fels und Eis, die ihre kühnsten Hoffnungen übertraf. Sie führt zum Gipfel des Ruchen und ist steil, schnörkellos, furchteinflössend. Oder, in Hinterbergers Worten: «Äusserst ästhetisch.»

Für Sponsoren nehmen sie diese Wand nicht in Angriff, zumal Hinterberger derzeit gar keine Geldgeber hat. Zu ungewiss sind die Erfolgsaussichten, zu zeitraubend das Projekt, und der gerade einmal 2901 Meter hohe Ruchen hat selbst in der Alpinszene keinen klingenden Namen. Wohlleben und Hinterberger agieren fast romantisch unökonomisch: In Zeiten, in denen alles planbar geworden zu sein scheint, sind sie auf der Jagd nach einem intensiven Leben.

«Für solche Linien reisen andere um die halbe Welt in den Himalaja», sagt Hinterberger. Erkundigungen bei lokalen Kletterern bestätigten dem 31-jährigen Schweizer: Nur der etwas flachere Nordpfeiler des Ruchen wird alle paar Jahre begangen, die Eislinie in der Nordwand gilt im Winter als unbestiegen. In Bergführern findet sich ohne Beleg ein Hinweis, ein gewisser Jakob Kubli habe die Nordwand im Jahr 1934 gemeistert. Allerdings war das, wenn es stimmt, im Sommer.

Dass die Eislinie immer noch Neuland ist, verwundert wenig, trotz der guten Erreichbarkeit von Zürich, Zug oder Schwyz. Denn die Route ist ebenso lang wie jene durch die viel berühmtere Eigernordwand – aber deutlich schwerer.

Das Scheitern ist wahrscheinlicher als der Erfolg

Bergsteiger, die immer noch Erstbegehungen anstreben, sind gewissermassen die letzten Abenteurer der Moderne. Sie wagen sich in die garstigsten Winkel der Hochgebirge, obwohl klar ist, dass sie dort eher das Scheitern erwartet als der Ruhm. «Es geht darum, Alpingeschichte nachzuleben», sagt Wohlleben. «Auf den Spuren von Heckmair unterwegs sein, daran erinnert man sich für immer.»

Andreas Heckmair ist der Massstab geblieben, auch wenn heute vieles anders ist als zu seiner Zeit. Als der Deutsche im Juli 1938 mit drei Kollegen die Eigernordwand durchkletterte, die vorher als unbezwingbar galt, fieberten Schaulustige auf der Kleinen Scheidegg mit. Nach der Rückkehr wurde das Quartett von Adolf Hitler empfangen. Gipfel wurden fürs Vaterland erobert, Extremleistungen propagandistisch ausgeschlachtet, Bergsteiger zu Helden.

Heute können Wohlleben und Hinterberger am Klöntalersee ihre Kletterausrüstung sortieren, ohne dass Spaziergänger von ihnen Notiz nähmen. Das ist ein unverkennbarer Fortschritt: Es geht jetzt nur noch um die Sache. Welche Gefahren in der Wand lauern, ist unterdessen immer noch völlig offen. Wie einst bei Heckmair, allen technischen Fortschritten zum Trotz.

Die Menschen interessieren sich weiterhin für den Alpinismus, aber die Aufmerksamkeit hat sich verschoben, es zählen vor allem Showeffekte im Internet. Als Wohlleben eine Wintererstbegehung in den Dolomiten gelang, er bezwang mit Hinterberger und Simon Gietl die vollständige Nordwand des Monte Agnèr, erhielt er auf Instagram nur 24 000 Aufrufe. Vor kurzem filmte sich der in der Schweiz lebende Deutsche, wie er sich bei der Altenalptürm-Überschreitung beim Führen von Gästen über einen schmalen Grat hangelt. Dieses Video, unterlegt mit dem Song «Skyfall» von Adele, erhielt auf derselben Plattform 4,2 Millionen Aufrufe.

Das Leben als Profibergsteiger könnte relativ einfach sein: Kunden auf Normalwegen begleiten und ab und zu ein spektakuläres Video. Doch Wohlleben sagt: «Das war Mickey Mouse. Den Grat können Leute ohne Erfahrung klettern.» Er sehnt sich nach Grenzerfahrungen. Wie viel die Allgemeinheit davon wissen will, ist für ihn sekundär.

Seit zwei Jahren positionieren sich Hinterberger und Wohlleben immer wieder am Klöntalersee, um mit Ferngläsern die Linie am Ruchen zu inspizieren. Dass sie gut befreundet sind, wird ihnen später womöglich das Leben retten. An einem Besuch im Februar wird deutlich, wie genau sie mit den Feinheiten des Felsens schon vor dem ersten Versuch vertraut sind. «Der Schlund, wo der Eiszapfen hängt, sieht heute schwierig aus», sagt der eine. Oder auch: «Die Traverse wird verdammt heikel.» Und der andere weiss sofort, wovon er spricht. Den Blick an der Wand haftend, durchleben sie einen permanenten Wechsel von Euphorie und Ernüchterung. Fast, als würden sie bereits klettern.

Immer wieder schlossen die Verhältnisse einen Versuch aus. Einmal gab es zu viel Schnee, also Lawinengefahr, dann wieder zu wenig Eis, was den Halt mit Pickeln verunmöglicht. Auch jetzt ist die Situation nicht ideal: Auf einigen Metern im oberen Teil ist das Eis geschmolzen. Doch kurz vor dem Ende des dritten Winters wollen sie es wissen. Ständig an die Wand zu denken, blockiert andere Ideen.

Sie rechnen mit vier Biwaknächten in der Wand

Als Wohlleben und Hinterberger am 4. März frühmorgens am See loslaufen, erst über einen Fussweg, dann querfeldein durch den Wald, ist es eisig kalt. Und die Anspannung überlagert alle anderen Emotionen. Hinterberger berichtet, der Abschied zu Hause sei speziell gewesen. Er hat ein elfmonatiges Kind. Wohlleben hat seiner Frau Rotwein und Schokolade hinterlassen. Sie rechnen damit, bis zu vier Mal in der Wand biwakieren zu müssen, genaue Prognosen sind unmöglich.

Sie haben Daunenschlafsäcke, Daunenjacken und einen Gaskocher dabei. Zum Sichern zwei siebzig Meter lange Halbseile, Klemmkeile, Friends und Schlingen. Sehr wenig Wasser, weil sie in der Wand Schnee schmelzen können. Ausserdem sorgfältig konzipierte Verpflegung: Morgens und abends gibt es Fertiggerichte aus der Tüte. Tagsüber je zwei Riegel und ein Gel. Ausserdem am ersten Tag ein Sandwich und dann je zweimal Gummibärchen und zweimal Bündner Nusstorte.

Auch einen Handbohrer haben sie für den Notfall eingepackt, «ganz unten im Rucksack, damit man ihn nicht findet», wie Wohlleben sagt. Wenn es irgendwie geht, wollen sie keine Spuren in der Wand hinterlassen. Trotz der puristischen Planung summiert sich das gemeinsame Gepäck auf 45 Kilogramm.

Sie steigen in die berüchtigte Nordwand ein. Von 2005 bis 2008 versuchte sich der Zürcher Peter Keller, seinerzeit einer der besten Kletterer der Schweiz, mit Bernd Rathmayr und Urs Odermatt an der Linie. Voller Respekt denkt er noch heute an die überhängenden Felspartien mit den freistehenden Eiszapfen zurück. Anspruchsvoll sei nicht nur die pure Steilheit, sagt der 53-Jährige am Telefon. Immer wieder wechselten sich senkrechte oder überhängte Abschnitte mit flacheren Passagen ab; man komme nie in einen flüssigen Rhythmus.

Wohlleben schätzt, unter Einbezug technischer Hilfen wie Trittleitern oder Schlaghaken bewege sich die Schwierigkeit der Felspassagen im Bereich bis 6a oder 6b und A1 bis A3. Das ist im Winter mit Steigeisen und Handschuhen auch für Profis schwierig und heikel, aber durchaus zu schaffen. Keller findet die Schätzung zu bescheiden: Er hält die Wand für schwerer.

Einmal deponierte der Zürcher vor Winterbeginn Material am grossen Schneefeld in der Wandmitte. Als er erneut dort ankam, befand es sich unter einer dicken Neuschneedecke. Erst im folgenden Sommer fand er es wieder. Keller sagt: «Wir sind ziemlich kläglich gescheitert.» Schliesslich habe er den Traum von der Erstbesteigung begraben. Heute fiebere er mit Hinterberger und Wohlleben mit: «Sie sind die Richtigen für das Projekt. Ich fände es megacool, wenn sie es schafften.»

Am Wandfuss kehrt die Lockerheit vordergründig zurück: Hinterberger und Wohlleben spielen Schere, Stein, Papier. Ersterer gewinnt und beginnt die ersten Seillängen im Vorstieg. Schon den zweiten Abschnitt empfindet er als gefährlich. In kleinen Felsritzen findet er Gras vor, das weder Halt bietet noch die Möglichkeit für Zwischensicherungen. Hinterberger klettert zurück, quert nach links, setzt den Aufstieg fort. Die Nervosität ist spürbar.

Doch in den folgenden Stunden findet das Duo in einen Flow: Mehrere Passagen fallen ihnen leichter als erwartet. Einmal pokern sie, als sie etwas weiter rechts in eine Rampe einsteigen als von langer Hand mit dem Fernglas geplant. Der Entscheid erweist sich als richtig, und die Zuversicht wächst. «Wir bekommen hier ja gar nicht aufs Dach wie befürchtet», so fasst Wohlleben später seine Gedanken zusammen.

Bereits am frühen Nachmittag erreichen sie nach 600 Höhenmetern das grosse Schneefeld in der Wandmitte. Erst über diesem beginnt der 1200 Höhenmeter lange Hauptteil mit den steilsten Passagen. Er ist für sich genommen so lang wie die komplette Nordwand des Matterhorns.

Neben ihnen donnert eine Lawine ins Tal

«Heiliger Bimbam», entfährt es Wohlleben, als er die Lawine bemerkt. Sie donnert so nah an ihm vorbei über das Schneefeld, dass er die Druckwelle spürt und Schneestaub abbekommt. Der rechts vor ihm laufende Hinterberger vernimmt einen Knall, bevor Schneebrocken auf den Fels krachen. Wären sie etwas anders positioniert gewesen, hätte sie die Lawine aus dem Schneefeld gerissen oder womöglich erschlagen.

Das Ereignis gibt Rätsel auf. Es herrscht Lawinengefahrenstufe 1, «keine oder geringe Gefahr». Denkbar scheint, dass sich an dem ungewöhnlich sonnigen Tag überraschend eine Wechte im Gipfelbereich gelöst hat. Es sei, als ob man sein Auto frisch repariert vom Mechaniker abhole, sagt Hinterberger später, und beim Herausfahren aus der Garage falle ein Rad ab. Damit rechne niemand.

An einer geschützten Stelle beziehen sie ein Biwak, in dem sie sich das Paradoxe der Situation vergegenwärtigen: Wenige hundert Meter entfernt ist das Auto am See parkiert, und doch sind sie völlig einsam. Später telefonieren sie mit Peter Keller: Ob er am Ruchen auch so eine Lawine erlebt habe? Das war nicht der Fall, allerdings befand sich der Zürcher stets früher im Winter an der Wand. Das bescherte ihm andere Probleme, zum Beispiel noch kürzere und noch kältere Tage, reduzierte aber das Lawinenrisiko.

Am nächsten Morgen entscheidet sich das Duo zum Abbruch. Während der kurzen Diskussion macht sich ihr gutes Verhältnis bezahlt: Sie sind sich auf Anhieb einig.

Der hochalpine Normalfall ist ein anderer. Wohlleben war früher mehrfach mit dem Starbergsteiger Ueli Steck unterwegs. Gemeinsam gelang ihnen die erste Nonstop-Wintertrilogie der Nordwände der Drei Zinnen in den Dolomiten. Er bewundert seinen einstigen Mentor bis heute, aber er benennt auch klare Unterschiede. «Ich hatte das Gefühl, dass Ueli immer eine Spur mehr ins Risiko gegangen ist», sagt Wohlleben. «Er konnte Gefahren besser ausblenden als ich.» Das habe sich an Kleinigkeiten gezeigt, etwa daran, dass er sich auf Gletschern ab und zu nicht habe anseilen wollen.

So konnte gelegentlich eine Dynamik entstehen, bei der auf Absicherungen verzichtet wurde. Sie ist nicht untypisch: Profialpinisten sehen sich an gemeinsamen Touren nicht ausschliesslich als Kollegen. Sondern manchmal auch als Konkurrenten, die sich gegenseitig beweisen wollen, stärker oder mutiger zu sein. «Viele wären in unserer Situation nicht umgedreht», sagt Wohlleben. Und das nicht nur wegen des eigenen Ehrgeizes, sondern auch aus einer Art Gruppenzwang heraus: Niemand will die Verantwortung schultern, das Scheitern zu beschliessen.

Wohlleben und Hinterberger widersetzen sich an diesem Morgen den Gepflogenheiten. Befreundet zu sein, erweist sich wieder einmal als enorm hilfreich. «Wir können uns von Ängsten erzählen und Schwächen eingestehen», sagt Wohlleben, «und wir müssen uns nichts beweisen.» Hinterberger bestätigt: «Wir haben eine ähnliche Risikobereitschaft.» Vorteilhaft ist auch, dass die Kräfteverhältnisse klar sind: Wohlleben beherrscht im Sportklettern den elften Grad, wenn er in Form ist, Hinterberger bewegt sich bestenfalls im zehnten Grad.

Nicht nur Wohllebens einstiges Idol Ueli Steck bezahlte seine Passion mit dem Leben. Auch andere, die der 34-Jährige kannte, sind in den Bergen gestorben.

«Der Schuss vor den Bug war klar und deutlich», sagt Wohlleben mit ein paar Tagen Abstand. Man stelle sich vor, führt er aus, sie hätten das Projekt fortgesetzt und wären von einer weiteren Lawine erfasst worden. Er wolle ein solches Risiko seiner Familie gegenüber nicht verantworten. Sein Sohn ist bereits elfjährig und erlebt seine Aktivitäten bewusst mit. «Wir haben Messer zwischen den Zähnen, aber es gibt Grenzen.»

Intensiv zu leben, ist ihnen wichtig. Noch wichtiger ist es, zu überleben.

So bleibt bis auf weiteres offen, ob es sich im oberen Teil der Rinne, in dem auf einigen Metern das Eis fehlt, überhaupt klettern lässt. Dort umdrehen zu müssen, könnte bedeuten, sich zwei Tage lang abseilen zu müssen, bis man wieder sicheren Boden unter den Füssen hat. Eine Horrorvorstellung für die meisten. Oder, in Wohllebens Worten: «Die volle Dosis Abenteuer.»

Auf der Normalroute ist der Gipfel des Ruchen von der Glärnischhütte aus in drei bis vier Stunden erreichbar, es handelt sich um eine leichte Hochtour. Von oben könnte man sich abseilen und die Schlüsselstellen inspizieren. Das würde das Unterfangen massiv erleichtern. Für Wohlleben und Hinterberger käme es nicht infrage. Heckmair und seine Kollegen seilten sich auch nicht ab.

Der Pionier dachte womöglich gar nicht so anders wie seine geistigen Erben. Als alter Mann schrieb Heckmair in seiner Autobiografie: «Bei meinen bergsteigerischen Unternehmungen hatte ich allzeit den Grundsatz: Es kommt nicht auf die Leistung, sondern auf das Erlebnis an.» Auch er suchte die volle Dosis Abenteuer.

Die Passion ist unstillbar. Schon am Tag nach dem Scheitern treffen sich Wohlleben und Hinterberger zum Sportklettern. Sobald es die Verhältnisse erlauben, werden sie zum Ruchen zurückkehren. Wahrscheinlich im nächsten Winter, der kalt und niederschlagsreich werden möge, damit sich neues Eis bildet. Ihr Projekt wird sie nicht loslassen.

Ein Sehnsuchtsort für die Massen wird der 2901 Meter hohe Gipfel nie werden. Nichts könnte ihnen egaler sein.

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