Die Lesebrille ab Stange erinnert uns warmherzig an unseren Zerfall. Unsere Autorin ist dennoch ein widerwilliger Fan.

Manchmal begegne ich Menschen, bei denen ich nicht weiss, ob ich ihre Person oder ihre Brille treffe. Eine Brille ist immer ein Statement. Ob bewusst oder unbewusst. Bei einer Lesebrille ab Stange kommt diese Gewissheit nur schleichend. Etwa ab Mitte 40 ist mensch «reif» für Verstärkung.

Da dreht mensch dann mal unauffällig an einem der Brillenständer irgendwo und denkt: «Hilfe, ich brauch das doch nicht», meint aber eigentlich: «Hilfe, ich will das doch nicht.» Später dann stösst mensch auf Izipizi und findet: «Ist nicht so schlimm.» Immerhin sind die Gestelle der französischen Marke sowohl preislich als auch optisch in Ordnung. Mit der ersten Izipizi nimmt dann alles seinen natürlichen, wenn auch leicht erniedrigenden Lauf.

Es soll die Lesebrille ab Stange seit den 1970er Jahren geben. In den letzten Jahren aber hat sie einen riesigen Aufschwung erlebt. Weil sie deutlich günstiger ist, weil wir insgesamt immer älter werden, immer mehr digitale Geräte benutzen, immer mehr Zeit vor Bildschirmen verbringen und weil wir uns alles nach Hause liefern lassen können.

Zahlreiche Online-Anbieter sind seither aus dem Boden geschossen und eifern um die Wette mit noch cooleren Designs. «Glas», «Warby Parker», «polette». Und dank der Augmented-Reality-Technologie kann mensch alle Brillen daheim durchprobieren. Klingt alles gut. Aber egal, ob dank einem Optiker oder dank einer Online-Brille: Es ist ein Genuss, scharf zu sehen, nicht nur beim Lesen.

Lieber Schärfe als Weitsicht

Mittlerweile besitze ich ein Dutzend Lesebrillen ab Stange. Sie liegen beim Bett, auf dem Schreibtisch, auf Ablageflächen, in Jacken und Taschen. Und ich bin umringt von Menschen, denen es genauso geht. Gewisse Freunde haben sogar in der Dusche eine Brille hängen. Auf Reisen gucke ich nach neuen Designs, in Italien finde ich eine übergrosse mit weissem Rand, fehlen noch Seidentuch und Cabriolet. In Barcelona bieten die Geschäfte fast ausschliesslich rote an, in Kopenhagen übermässig viele im Architekten-Look.

Gewisse Brillen kann mensch kaum tragen, ohne eine Art Groupie zu werden. Corbusier als Stichwort, John Lennon, Janis Joplin oder Iris Apfel, deren Brillennachlass soeben bei Christie’s versteigert wurde: 18 Rahmen zur Schätzung von rund 450 Franken – zum tatsächlich erzielten Betrag von rund 14 000 Franken. Leider habe ich somit keines der Stücke ergattert. Dennoch habe ich mittlerweile eine Sammlung, die mich warmherzig an meinen Zerfall erinnert. Und bald schon sieht mensch aus wie die Onkel und Tanten, die in der Kindheit bei zu viel Lärm angsteinflössend über ihren Brillenrand guckten.

Diesen Text allerdings schreibe ich ohne Lesebrille. Beim Ausschütteln der Bettwäsche vor dem Fenster des Berghäuschens ist sie mir vom Kopf gefallen und runter ins Tal geschlittert. Und, oh Wunder, es gibt noch ferne, kleine Dörfer am Ende der Welt, in denen keine Brillen ab Stange zu finden sind. Sowieso: Was soll ich mit einer Lesebrille in diesen Tagen? Wozu scharf sehen? Um fassungslos zu erfahren, wie sich die Trumps, Musks und Putins gebärden? Ja. Ich plädiere ab sofort für mehr Schärfe. Denn die Art von Weitsichtbrille, welche die Welt braucht, ist leider nicht käuflich, auch nicht ab Stange.

Renata Burckhardt ist Bühnen­autorin, Kolumnistin und Dozentin in den Bereichen Kunst, Literatur und Theater, u. a. an der FHNW in Basel. Zudem leitet sie Schreibworkshops an diversen Theater- und Literatur­institutionen.

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