Die Eröffnung des umstrittenen Tempels in Ayodhya durch den Premierminister folgt auf einen jahrzehntelangen Streit. Die religiöse Stätte ist ein Symbol für das Selbstbewusstsein der Regierung Modi.
Der Tempel ist noch nicht ganz fertig, an seinen Türmen ragen noch immer Gerüste hoch. Eingeweiht wird er in der nordindischen Stadt Ayodhya am Montag trotzdem, vom indischen Premierminister Narendra Modi persönlich. Es ist ein lange erwarteter Akt – und einer von Modis umstrittensten.
Der Ram-Tempel in Ayodhya ist ein Symbol – vielleicht eher eine Machtdemonstration. Seit Tagen gibt es kein anderes Thema in den indischen Medien. Die Einweihung ist auch der Auftakt des indischen Wahlkampfes, danach werden Politiker von Modis Partei BJP anfangen, durch ihre Wahlkreise zu touren. Die Zeremonie am Montag soll ihnen Rückenwind geben. Modi selbst befindet sich derzeit auf Pilgerreise zu verschiedenen Tempeln Indiens, die Einweihung in Ayodhya wird ihr Höhepunkt.
220 Millionen Dollar soll der neue Tempel kosten. Er wird der grösste in Indien sein.
Streit an einem symbolischen Ort
Um zu verstehen, was der Tempel in Ayodhya bedeutet, muss man in die Vergangenheit blicken. Die Einweihung bedeutet den vorläufigen Höhepunkt eines jahrzehntelangen Streits, eigentlich ist er sogar jahrhundertealt. Im 16. Jahrhundert regierten die Mogulen, muslimische Herrscher aus Afghanistan, grosse Teile Indiens. Einer ihrer Kommandanten liess in Ayodhya eine Moschee errichten: die Babri Masjid. Das Problem: Die Moschee stand genau dort, wo gemäss hinduistischer Überlieferung der Gott Ram geboren war.
Lange beteten Hindus und Muslime gemeinsam am für sie heiligen Ort. Aber bereits im 19. Jahrhundert, Indien war mittlerweile von den Briten regiert, gab es Streit. Die Kolonialherren bauten einen Zaun, um die Religionen zu trennen: Im inneren Kreis durften Muslime beten, im äusseren Hindus.
Nach der Unabhängigkeit verschärfte sich der Konflikt um die Babri Masjid. Die Moschee wurde zeitweise für Betende ganz geschlossen. Der Streit gipfelte in Ausschreitungen im Jahr 1992: 150 000 Menschen hatten sich in Ayodhya versammelt, radikale Hindu-Nationalisten und deren politischer Arm hatten die Kundgebung organisiert. Der politische Arm: die heutige Regierungspartei BJP.
Die aufgepeitschte Menge durchbrach alle Sicherheitsschranken und zerstörte die Moschee mit Hämmern und Stangen. Die Bilder gingen um die Welt, es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen im ganzen Land, mindestens 2000 Menschen kamen ums Leben.
Ein altes Versprechen wird erfüllt
Man kann sich heute die TV-Bilder und Interviews von damals anschauen. Wie schockiert die regierenden Politiker in Delhi waren ob der Gewalt. Indien hatte 1991 gerade die Wirtschaft liberalisiert, das Land galt als säkulare Demokratie im Aufbruch. Heute regiert jene Partei in Delhi, welche die damaligen Proteste mitorganisiert hat.
Auch deshalb ist die Einweihung des Tempels so wichtig für Modi. Es ist die Erfüllung eines Versprechens, das seine Partei und ihre Vordenker ihren Anhängern vor langer Zeit gegeben haben.
2019 erlaubte Indiens höchstes Gericht offiziell den Bau eines Hindu-Tempels auf der zerstörten Moschee. Das Urteil war umstritten und wurde von Verfassungsrechtlern in Indien scharf kritisiert. Den Muslimen sollte laut Gericht ein anders Stück Land zugesprochen werden, auf dem sie beten können. Es liegt etwas ausserhalb der Stadt.
Die extremen Positionen von einst sind in Indien heute längst Mainstream geworden. Der Hindu-Nationalismus der BJP hat zumindest den bevölkerungsreichen Norden des Landes erobert. Modi gehört laut Umfragen zu den populärsten Politikern der Welt, kritische Medien gibt es nur noch wenige. In Südindien ist seine Partei zwar weniger populär und hat jüngst auch Wahlen verloren. Aber die Parlamentssitze aus dem Norden würden für einen Sieg bei den Wahlen im kommenden Frühling reichen. Kaum ein Experte zweifelt daran, dass Modi nach zehn Jahren als Premierminister auch für eine dritte Amtszeit gewählt wird.
Zwar bleibt die Opposition der Zeremonie am Montag fern und spottet, dass Modi einen halbfertigen Tempel einweihe. Selbst hochrangige Hindu-Priester verurteilen die Einweihung als Wahlkampf-Stunt. All das dürfte Modi kaum schaden. Mehrere nordindische Staaten haben den Montag zu einem Feiertag erklärt, alle Büros bleiben einen halben oder einen ganzen Tag geschlossen.
Ein Indien nur für Hindus
Modi hat den radikalen Hindu-Nationalismus nicht erfunden. Er ist selbst ein Produkt einer viel älteren Strömung: der Hindutva, radikaler Hindus, die sich bereits vor der indischen Unabhängigkeit in den 1920er Jahren formierten. Ihre Gründer äusserten in den 1930er Jahren Sympathien für Adolf Hitlers Ausgrenzung der Juden in Deutschland.
Sie wollen ein Indien nur für Hindus. In ihrem Weltbild war Indien seit dem Einfall der Mogulen stets fremdbestimmt, die Hindus wurden um ihren eigenen Staat betrogen, ihre Zivilisation zerstört. Allerdings bleibt die Frage für die Historiker offen, wie geeint Indien vor dem Einfall der Mogulen tatsächlich war. Der riesige Subkontinent bestand über die Jahrhunderte aus mehreren Königreichen mit verschiedenen Dynastien.
Das Weltbild von verlorener Grösse ist auch Modis Weltbild, er trat schon als Jugendlicher der Hindutva-Freiwilligenorganisation RSS bei. An einer Rede zum Unabhängigkeitstag im vergangenen Sommer sagte Modi, Indien habe «1000 Jahre in Sklaverei» gelebt. Im November sagte Modi, Indien habe sich heute zum ersten Mal von der «Mentalität der Sklaven» befreit. In dieser Logik steht der Tempel in Ayodhya: Damit Indien seine Rolle in der Welt einnehmen kann, müssen erst alle Symbole einer muslimischen Vergangenheit getilgt werden. Über 200 Millionen Muslime leben in Indien.
Modi hat den Tempel zur Machtdemonstration gemacht: für die Hindutva, für den Hindu-Nationalismus. Zum Symbol für das indische Selbstbewusstsein unter Modi. Dieses speist sich nicht nur aus der gestiegenen geopolitischen Bedeutung Indiens oder aus wachsenden Wirtschaftszahlen, sondern auch aus religiösem Fundamentalismus.