Mittwoch, Oktober 30

Eine neue Masche ruft bei den Behörden Besorgnis hervor.

Der Albtraum beginnt für einen 16-jährigen Teenager mit einer Nachricht auf Instagram.

Dienstag, 5 Uhr 20, Emily, 16, schreibt: «Hi».

Dienstag, 8 Uhr 20, er antwortet: «Hey».

Der Teenager ahnt nicht: Emily heisst eigentlich anders, ist ein erwachsener Mann und sitzt vor einem Laptop in Nigeria. Der Mann ist Teil einer Bande und hat das, was jetzt folgt, schon Dutzende von Malen getan. Er wird den Jugendlichen bezirzen, um Nacktaufnahmen von ihm zu bekommen – mit diesen wird er ihn dann erpressen.

In der Schweiz beobachten die Behörden eine Zunahme von solchen Erpressungsversuchen. Patrick Jean, Mediensprecher des Bundesamts für Polizei (Fedpol), sagt: «Bis vor kurzem war die Erpressung mit Nacktbildern und -videos vorwiegend auf Erwachsene beschränkt, wenn die Täterschaft Geld wollte. Seit einigen Monaten beobachten wir bei den Fällen, in die Fedpol involviert ist, dass vermehrt auch Minderjährige Opfer dieser Masche werden.»

Dass vermehrt Jugendliche in den Fokus der Kriminellen geraten, überrascht die Behörden. Bei Minderjährigen sei in der Regel nur wenig Geld zu holen, im Gegensatz zu erwachsenen Opfern. «Dafür sind Kinder und Jugendliche verletzlicher und vielleicht noch eher bereit, Geld zu bezahlen, weil sie um jeden Preis verhindern wollen, dass ihre Nacktbilder veröffentlicht werden», so Jean.

Genannt wird das Erpressungsphänomen Sextortion. Eine Wortkombination aus Sex und dem englischen Wort für Erpressung: Extortion. Die Abläufe ähneln sich. Die Gespräche beginnen harmlos – das zeigen Auszüge des Chats zwischen Emily und dem Teenager, die der NZZ vorliegen.

Phase 1: die Annäherung

Der Mann, der sich als Emily ausgibt, versucht Vertrauen zu schaffen. Er gibt sich erst unsicher, dann vom Opfer angezogen.

Emily schreibt: «Bist du allein in deinem Zimmer? Und bitte sei ehrlich.»

Teenager: «Ja, ich bin gerade erst aufgewacht.»

Emily: «Schick mir ein Live-Foto, damit ich weiss, mit wem ich es zu tun habe.»

Teenager: «Ok».

Emily: «Du bist sehr hübsch.»

Teenager: «Wirklich? Du bist super heiss, und ich war besorgt, dass du nicht dasselbe von mir denken würdest.»

Emily: «Wo hast du das Foto aufgenommen?»

Teenager: «In meinem Zimmer.»

Phase 2: Die Falle schnappt zu

Der Täter versucht nun die Phantasien des Jugendlichen zu steuern, ihn zu erregen. Er macht romantische Versprechungen, sagt, er wolle mit ihm zusammen sein, und bittet dann um Nacktbilder und Videos des Teenagers. Dieser lässt sich darauf ein, schickt Aufnahmen seines Geschlechtsteils. Die Falle schnappt zu. Die Erpressung beginnt.

Emily: «Möchtest du, dass ich dieses Nacktvideo von dir all deinen Familienmitgliedern zeige? Alle deine Freunde und deine Familie werden es sehen. Ich werde es jedem und jeder schicken. Ich habe eine Liste mit all deinen Freunden. Wenn du mich blockierst, werde ich dich blossstellen.»

Dann fordert Emily Geld. Erst über Paypal. Als der Teenager einwendet, er sei noch nicht volljährig und könne kein Geld über eine Bezahl-App schicken, ändert Emily den Plan. Nun will sie, dass er Geschenkkarten kauft von grossen Onlinehändlern und ihr die Codes schickt. Erst will sie 200 Franken, dann 500, später 1000.

John Shehan vom National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) kennt den Fall. Die gemeinnützige Organisation aus den USA ist weltweit einer der wichtigsten Player im Kampf gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern. Sie fungiert unter anderen als Meldestelle für Verdachtsfälle und gibt diese Meldungen weiter an die zuständigen Polizeistellen. Auch bei den Schweizer Behörden stammt eine Mehrheit der Hinweise auf sexuelle Ausbeutung von Kindern von NCMEC.

Shehan, der seit 24 Jahren für NCMEC arbeitet, sagt: «Seit etwa eineinhalb Jahren sehen wir eine deutliche Zunahme dieser Sextortion-Fälle.» Der Ablauf der Gespräche sei immer gleich, die Fotos der Mädchen, die als Köder dienten, auch.

Die Situation sei beunruhigend, sagt Shehan: «Die Jugendlichen haben wirklich das Gefühl, dass ihr öffentliches Leben nun vorbei ist.» In den vergangenen eineinhalb Jahren hätten sich allein in Nordamerika 18 Jugendliche in Zusammenhang mit Sextortion das Leben genommen.

Auch in Zürich gab es zuletzt vermehrt Meldungen wegen solcher Erpressungsfälle, das bestätigen Stadt- und Kantonspolizei. Kenneth Jones, Mediensprecher der Kantonspolizei Zürich, sagt: «Der Polizei ist bekannt, dass Sextortion unter anderem von Gruppierungen aus Afrika praktiziert wird.» In der Statistik werden die Fälle von minderjährigen Sextortion-Opfern aber bisher nicht gesondert geführt, weshalb sie sich nicht beziffern lassen.

Im November wurde in Zürich dank einem Hinweis von NCMEC ein mutmasslicher Trittbrettfahrer gefasst. Ein 39-jähriger Zürcher soll in den sozialen Netzwerken Jugendliche im In- und Ausland dazu gebracht haben, ihm Nacktbilder zu schicken.

Laut Angaben der Kantonspolizei drohte er danach, die Bilder im Internet zu veröffentlichen. Der mutmassliche Täter habe im Gegensatz zu den Banden aus Afrika nicht Geld gefordert, sondern zusätzliches pornografisches Material. Er verlangte von den Minderjährigen nach seinen Wünschen hergestellte Pornos. In mehreren Fällen soll er seine Drohung wahr gemacht haben und explizites Bildmaterial der Jugendlichen veröffentlicht haben, nachdem sie seine Forderungen ignoriert hatten.

Die Stadtpolizei Zürich rät Betroffenen, den Kontakt zu den Erpressern sofort abzubrechen und auf keinen Fall Geld oder weitere pornografische Bilder zu schicken. «Das Material wird vermutlich sowieso veröffentlicht. Und in der Regel folgen nach der Bezahlung weitere Geldforderungen», schreibt die Stadtpolizei. Wichtig sei, Kopien der Chats zu erstellen, Anzeige bei der Polizei zu erstatten und den Fall der Plattform zu melden, über die die Erpressung stattgefunden habe. Der mutmassliche Zürcher Erpresser sitzt derzeit in Untersuchungshaft.

An die Hintermänner der kriminellen Netzwerke in Westafrika zu kommen, gestaltet sich schwierig. Jüngst hat Nigeria zwar zwei Brüder, 20 und 22 Jahre alt, an die USA ausgeliefert. Sie sollen Teil des Sextortion-Rings gewesen sein und mit ihren Forderungen einen 17-Jährigen Amerikaner in den Suizid getrieben haben.

Shehan stimmen die Ermittlungserfolge wenig optimistisch. Er sagt: «Das sind Handlanger. Sie werden einfach ersetzt, und die Erpressungen gehen weiter.»

Exit mobile version