Samstag, November 23

Bis 1934 war der Waldviertler Mohn sogar an der Londoner Börse notiert. Dann verdrängten ihn billigere Produkte aus Osteuropa und dem Nahen Osten allmählich vom Markt. Heute wird er in der Gegend wieder in grösserem Stil angebaut. Keinesfalls verpassen sollte man, die süssen Mohnnudeln zu kosten.

Schupfnudeln aus Kartoffeln und Mehl, mit Butter, Mohn und Staubzucker

Wie irre schüttle ich meine Hand durch die Luft. Als ob sich der Schmerz so wegschleudern liesse. Beim Öffnen des nassen Kofferraums bin ich abgerutscht und habe mir ein Stückchen Haut weggerissen. «Das ist ein gutes Zeichen! Blut am Daumen bringt Glück am Gaumen!» Ich drehe mich um. Hinter mir steht eine Frau in einem leuchtend lapislazuliblauen Regenmantel. Sie ist schon älter, hat aber ein junges, fröhlich pausbäckiges Gesicht mit einer langen Nase und einem kleinen Schmollmund, der gar nicht zu ihrem breiten Dialekt passen will. Ich kenne diese Frau von irgendwo. Vielleicht war sie eben auch im Restaurant?

«Sie kommen grad von der ‹Neuwiesinger›, gell? Mohnnudeln, gell?», fährt die Frau heiter fort und schlüpft dabei aus ihren gelben Gummistiefeln. «Sie kennen doch sicher den Spruch: ‹Hört dein Pansen nicht auf zu raunzen, hau ihm Äpfel und Mohn auf die Schnauzen.› Das verstehen Sie schon, gell? Oder aus welchem Ausland sind Sie?»

Die Frau lacht heiser und schlägt die Gummistiefel gegeneinander, kleine Erdbrocken fliegen in alle Richtungen davon. Sie stellt die Stiefel in ihren Kofferraum, zieht den Deckel zu, jetzt kann ich die Nummer sehen: W wie Wien, die Dame kommt aus der Hauptstadt.

Wir sind die einzigen Gäste auf dem riesigen Parkplatz über Armschlag, dem Waldviertler Mohndorf im Nordosten Niederösterreichs. Wenn die Felder im Juli in Blüte stehen, dann reihen sich hier von morgens bis abends die Busse und Pkw. Auch jetzt im August ist tagsüber noch einiges los. Doch es ist schon spät, und der «Neuwiesinger», die berühmte Wirtschaft des Dorfes, schliesst um sieben Uhr. Ausserdem regnet es hier seit Tagen, derweilen der Rest von Europa unter Hitze und Trockenheit ächzt.

«Wenn der Magen knurrt, dann soll man ihn mit Äpfeln und Mohn beruhigen», versuche ich eine Übersetzung.

«Bravo! Aber mit Äpfeln sind natürlich Erdäpfel gemeint, Kartoffeln.»

«Sie kennen sich aber aus.»

«Ich bin halt von hier, gell. Meine Eltern hatten einen Hof ganz in der Nähe, gegen Melk zu, aber ich lebe schon fünfzig Jahre in Wien, wegen meines Manns selig. Heute komme ich nur noch zum Wandern her. Wegen der guten Luft, gell. Haben Sie denn die Mohnfelder gesehen? Nicht? Der Mohn hat Sie ganz bestimmt schon ins Auge gefasst!»

Wieder lacht sie kratzig. Ich schaue sie fragend an. Sie greift in den Papiersack, den sie vor sich am Boden stehen hat, zupft eine graue, leicht angeschimmelte Mohnkapsel mitsamt Stengel heraus, hält sie mir unter die Nase und zeigt mit dem Nagel des kleinen Fingers auf eine Reihe von Löchern direkt unter der Krone.

«Das nennt man Augen. Daran erkennt man den typischen Graumohn unserer Gegend. Man spricht auch von einem ‹sehenden Mohn›. Und wenn man . . . Strecken Sie mal die Hand aus!» Sie dreht die Kapsel um, schüttelt sie wie einen Salzstreuer und lässt braungraue Mohnsamen über meine Finger rieseln.

«Wenn das ein Blaumohn wäre, dann würde da gar nichts rauskommen, gell. Das aber ist unser Graumohn, der schmeckt feiner, weniger bitter, denn er hat eine dünnere Schale.»

«Und den nehmen Sie jetzt zum Kochen mit?»

«Naa, das ist bloss Dekoration. Früher schon, gell, da haben wir den Mohn aus jeder einzelnen Kapsel geschüttelt. Aber heut, mit all den Maschinen . . . Ja, früher hatten alle hier auch einen Streifen Mohn im Garten – und Kartoffeln natürlich. Gerade bei den Ärmsten gab es für die Kinder oft nur eine dünne Suppe und dann eben die Mohnnudeln, mit einem kleinen Staubzucker. Das hat die Bäuche gefüllt, gell. Darum der Spruch, verstehen Sie? Wie war’s denn beim ‹Neuwiesinger›?»

Das Wirtshaus von Rosemarie und Johann Neuwiesinger spielt eine wichtige Rolle bei der Renaissance des Mohns im Waldviertel. Erstmals erwähnt wird der Papaver somniferum der Gegend schon 1280 in einem Dokument des Stiftes Zwettl. Damals brauchten die Mönche das Mohnöl vor allem für ihre Lampen, für das ewige Licht. Mohn kam aber ebenso als Heil- und Betäubungsmittel zum Einsatz. Später wurden die Samen mehr und mehr vor allem kulinarisch genutzt, auch von den Konditoreien in Wien. Bis 1934 war der Waldviertler Mohn sogar an der Londoner Börse notiert. Dann aber verdrängten ihn billigere Produkte aus Osteuropa und dem Nahen Osten allmählich vom Markt. Erst in den achtziger und neunziger Jahren begann man den typischen Mohn der Gegend wieder in grösserem Stil anzubauen. Führend war dabei der Waldviertler Sonderkulturenverein, ein Verband von heute tausend landwirtschaftlichen Betrieben, der unter dem Label Waldland die Produktion und Vermarktung der meisten Agrargüter der Region koordiniert. 1997 erhielt der Mohn aus der Gegend eine geschützte Ursprungsbezeichnung der EU.

Im selben Zeitraum entwickelten die Neuwiesingers gemeinsam mit der halben Dorfbevölkerung die Idee, aus Armschlag ein «Mohndorf» zu machen. Man investierte in Konzepte und Strategien, legte einen Lehrpfad und einen Ziermohngarten an, liess das längste Mohn-Wandbild der Welt malen, eröffnete einen Shop, besorgte sich einen Mini-Zug . . . Die Idee funktionierte, und bis heute ist Armschlag vor allem zur Mohnblüte die touristische Attraktion der Region. Zu einer Mohntour durchs Waldviertel gehört aber ebenso ein Besuch im hübschen Museum der Familie Gressl in Ottenschlag, die sich vor allem auf die Herstellung von Mohnöl spezialisiert hat.

Rosemarie Neuwiesinger ist in besonderem Masse zu einer Botschafterin des Waldviertels geworden, nicht nur mit ihrem Restaurant, sondern auch als Fernsehköchin beim Österreichischen Rundfunk. Ein Essen in ihrem Wirtshaus läuft fast zwangsläufig auf ein Mohnfest hinaus, denn nahezu alles auf der Karte ist hier dem Thema gewidmet, vom «Schofkas» mit Mohnölpesto über die Suppe mit Mohnfrittaten, das Waldviertler Karpfenfilet im Mohnmantel, Mohnschnitzel, Mohntasche, Mohnknödel bis zum süssen Abschluss Mohneis, Mohntorte, Mohnzelten, begleitet von Mohnschnaps, «Mohni»-Kaffee oder Mohnlikör. Eine ganz besondere Rolle aber spielen die Mohnnudeln, sie sind der «Dauerbrenner und Klassiker» nicht nur des Hauses, sondern der ganzen Gegend. Auch Rosemarie Neuwiesinger betont im Gespräch, dass es sich bei dem Rezept eigentlich um ein «Arme-Leute-Essen, einen Magenfüller» handle: «Früher gab es richtige Sterznudeln, mit Kartoffeln und Vorschussmehl. Das war sehr aufwendig, heute kocht man nach einem einfacheren, effizienteren Rezept.»

Zu gerne hätte ich zugeschaut, wie die berühmte Köchin ihre Mohnnudeln macht, von denen sie an manchen Tagen mehr als hundert Portionen serviert. Aber sie wollte mich partout nicht in ihre Küche lassen, schon gar nicht mit meinem Fotoapparat. Denn längst gibt es offizielle Bilder. Alles hat hier seine professionelle Ordnung.

Jetzt drückt mir die Dame aus Wien den Stengel mit der leeren Kapsel in die Hand: «Für die Frau Gemahlin . . .», sagt sie, öffnet die Fahrertür ihres Autos, rafft den leuchtend blauen Mantel etwas hoch und steigt ein: «Sie wissen noch, wie er geht, gell?»

«Wie wer geht?»

«Na der Spruch!»

Erst als sie weg ist, fällt mir ein, an wen mich ihr Gesicht die ganze Zeit erinnert hat: an die Madonna von Grainbrunn, an jenes Gnadenbild von 1517, zu dem die Bauern der Gegend jeweils im März und im Oktober pilgern, weil das Jesuskind auf dem Arm der Maria einen Mohnschnuller hält. Wenn das kein gutes Zeichen ist!

Zutaten (für 4 Personen)

  • 500 g mehlige Kartoffeln
  • 250 g Weizenmehl, sogenannt griffiges Mehl (Typ 550)
  • 30 g Butter in Flocken
  • Etwas Salz
  • 1 Ei
  • 50 g Butter
  • 100 g Zucker (oder 60 g Zucker und 2 EL Honig)
  • 1 EL Rum
  • 100 g Graumohn, gemahlen
  • Etwas Staubzucker

Zubereitung (30 Minuten, Ruhezeit 3 Stunden)

  • Kartoffeln garen, schälen und vollständig abkühlen lassen.
  • Kartoffeln (mit Presse oder Passevite) fein zerdrücken, mit Mehl, 30 g Butter, einer Prise Salz und einem Ei rasch zu einem Teig verkneten. Von Hand fingerförmige Nudeln formen, in kochendes Wasser geben und zehn Minuten sieden (wenn sie zur Oberfläche aufsteigen, sind sie gar). Mit einer Schaumkelle aus dem Wasser heben.
  • 50 g Butter in einer Bratpfanne schmelzen lassen, Zucker, Rum und Mohn vermischen. Nudeln kurz darin schwenken, auf Teller verteilen, mit Puderzucker bestäuben. Je nach Grösse der Bratpfanne ist es besser, die Nudeln in zwei Durchgängen mit dem Mohn zu verbinden.

Man kann Mohn bereits gemahlen kaufen, in einer speziellen Mohnmühle quetschen oder in der elektrischen Kaffeemühle mahlen.


Rezepte gegen Fernweh

Der Duft der grossen, weiten Welt lässt sich auch am heimischen Herd heraufköcheln. Wir nehmen Sie mit auf einen kulinarischen Abstecher in die Ferne.

Exit mobile version