Freitag, November 14

Michel Barnier soll eine stabile Regierung bilden. Seine eigene Partei hat dafür keine Machtbasis, und die Linke schlägt ihm die Tür vor der Nase zu. Er muss auf das Wohlwollen des rechtsnationalistischen Rassemblement national setzen.

Mit Michel Barnier hat Frankreich nach dem jüngsten Premierminister der Fünften Republik nun den ältesten Amtsinhaber erhalten. Gabriel Attal stand zwar trotz seinem jungen Alter von 35 Jahren nicht unter dem Verdacht, unerfahren zu sein. Aber Barniers Ruf als geschickter Brexit-Verhandlungsführer eilt dem 73-Jährigen voraus. Und so geniesst Barnier nicht sein Leben als Rentner, sondern steht vor einer weiteren schwierigen politischen Aufgabe.

Er soll eine Regierung bilden, die möglichst stabil und handlungsfähig sein soll. Wen er in sein Kabinett beruft, mit welchen Mehrheiten er regieren will und wie er sich eine Zusammenarbeit mit Macron vorstellt, ist am Tag nach seiner Ernennung allerdings unklar. Barnier hat sich vorgenommen, mit allen politischen Lagern zu sprechen – sogar mit der extremen Linken und den extremen Rechten. Als Prioritäten seiner Regierung nannte er relativ unverfänglich die Dauerbrenner der französischen Politik: die Reform des Schulwesens, die Stärkung der inneren Sicherheit, die Kontrolle der illegalen Einwanderung und der Kampf gegen den Kaufkraftverlust.

Die Wut der Linken

Seine Beratungen begann er am Freitag mit seinem Vorgänger Attal und den Führern seiner eigenen Partei, den Republikanern, um abzutasten, wer in sein künftiges Regierungsteam passen könnte. Allerdings ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament klar, dass Barnier bei der Bestellung seines Kabinetts nicht nur auf diese beiden Lager setzen kann. Denn zusammen verfügen die Konservativen und das zentristische Lager Macrons nur über 213 Sitze. Sie sind damit weit entfernt von den 289 Sitzen, die für eine Mehrheit erforderlich sind. Zudem ist davon auszugehen, dass eher nach links tendierende Macronisten Barnier ihre Unterstützung entsagen werden.

Auf die Unterstützung von links wird Barnier ohnehin nicht zählen können. Der Chef der Sozialisten, Olivier Faure, schloss am Freitag die Teilnahme seines Personals an einer Regierung Barnier aus. Dabei argumentierte er nicht unbedingt inhaltlich: Barnier sei der Vertreter einer Partei, die bei der Parlamentswahl im vergangenen Juni lediglich auf dem vierten Platz gelandet sei und deswegen keine Legitimität habe, den Premierminister zu stellen, sagte er.

Die vereinigte Linke, zu denen die Sozialisten gehören, sieht sich nach wie vor als Wahlsiegerin und wirft Präsident Emmanuel Macron vor, er habe mit seiner Wahl eines konservativen Regierungschefs die Demokratie missachtet. Die linksradikale Bewegung La France insoumise geht sogar so weit zu behaupten, Macron habe «dem französischen Volk die Wahl gestohlen». Das Linksbündnis Nouveau Front populaire (NFP), das aus vier Parteien besteht, hatte bei der Wahl Ende Juni die meisten Sitze gewonnen. Auf dessen Vorschlag, die Beamtin Lucie Castets zur Premierministerin zu ernennen, war Emmanuel Macron allerdings nicht eingegangen.

Da sich das linke Lager nun verweigert, Barnier die Hand zu reichen, muss dieser wohl auf das Rassemblement national (RN) zugehen. Die rechtsnationalistische Partei und ihre Verbündeten stellen mit 142 Abgeordneten die grösste Fraktion rechts der Mitte. Marine Le Pen, die das RN im Parlament anführt, könnte so zur Königsmacherin werden. Sie zeigte sich zunächst versöhnlich. Der neue Premierminister, sagte sie nach dessen ersten Statements, scheine zumindest das Mindestkriterium zu erfüllen, alle verschiedenen politischen Kräfte zu respektieren. «Er ist ein Mann, der nie unverschämt über das Rassemblement national gesprochen hat, der uns nie geächtet hat», sagte Le Pen.

Barnier hatte im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2022, für die er selbst kandidierte, ein drei- bis fünfjähriges Moratorium für die Einwanderung gefordert. Das lässt ihn in den Augen Le Pens offenbar tragfähig erscheinen. Es ziehe wohl ausnahmsweise kein «Verrückter» ins Hotel Matignon ein, erklärte sie.

Die Uhr tickt

Barnier hat schon signalisiert, dass die Auswahl seines Kabinetts Zeit in Anspruch nehmen werde. Denn wenn er im Sinne des Präsidenten handelt, soll seine Regierungsmannschaft im Parlament derart abgestützt sein, dass sie nicht gleich durch ein Misstrauensvotum wieder gestürzt wird. Die Parlamentswahl hatte ein in der jüngeren französischen Geschichte ungewöhnliches Ergebnis hervorgebracht: drei grössere Blöcke, von denen keiner die absolute Mehrheit hat. Emmanuel Macron liess denn am Freitag auch mitteilen, dass die Zusammenarbeit mit Barnier nicht einer Cohabitation gleichkäme, sondern einer «coexistence exigeante» – einer anspruchsvollen Koexistenz.

Damit baut der Präsident eine gewisse Distanz zu Barnier auf, der konservativere Positionen vertritt als Macron. Allerdings hat er sich mit Barnier einen erfahrenen Verhandler ausgesucht. Der frühere Brexit-Chefunterhändler blieb der Presse 2020 mit den Worten «Die Uhr tickt» in Erinnerung, die er immer wieder vortrug, wenn die Gespräche zwischen London und Brüssel zu scheitern drohten.

Vier Jahre später steht Barnier wieder unter hohem Zeitdruck. Bis Anfang Oktober muss die neue Regierung den Haushaltsentwurf für 2025 vorlegen. Viel Zeit, für stabile Verhältnisse zu sorgen, bleibt «Monsieur Brexit» also nicht.

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