Montag, November 25

Zuerst war Wokeness der Protest marginalisierter Gruppen gegen eine Leitkultur, die sie als repressiv empfanden. Dann wurde die Bewegung selbst rassistisch. Jens Balzer zeigt, weshalb.

Ein paar Jahrzehnte ist es her, da wollte die postmoderne Philosophie die Gesellschaft von der angeblichen Tyrannei absoluter Wahrheiten und starrer Kategorien befreien. Jean-François Lyotard proklamierte 1979 das Ende der grossen ideologischen Erzählungen, während Gianni Vattimo mit einem «schwachen Denken» die «starken Strukturen» der abendländischen Metaphysik verabschiedete – sei es Gott, Moral oder das Sein.

Interessanterweise führte diese Öffnung ihrerseits wieder zu dogmatischen Verhärtungen. Ein Beispiel dafür bietet Vattimo: In seinen Schriften tritt er koboldhaft als «schwuler katholischer, kommunistischer Nihilist» auf, so die Selbstbezeichnung. Wenn es um Israel ging, sprach er anders. Während des Gaza-Kriegs von 2014 wünschte er sich, die «zionistischen Schufte zu erschiessen» und dass die Europäer der Hamas bessere Raketen kaufen. Als Vattimo am 19. September 2023 starb, verlor die Hamas in der europäischen Intelligenzia einen prominenten Fürsprecher.

Klirrende Kälte der Woke-Bewegung

Viele linke Ideologen, vor allem aus dem woken Lager, seien von dem Massaker vom 7. Oktober begeistert gewesen, fasst Jens Balzer in seinem Buch «After Woke» zusammen. So schrieb Tariq Ali in der britischen Zeitschrift «New Left Review»: «Die gewählte Regierung in Gaza schlägt zurück. Sie bricht aus ihrem Freiluftgefängnis aus und [. . .] steht gegen die Kolonisatoren auf.»

Ismail Ibrahim liess im amerikanischen Magazin «n+1» verlauten: «Ich spürte den Schock und die Schönheit von etwas Unvorstellbarem, das sich ereignet hatte.» Subtil dialektisch dagegen Judith Butler, der Star des Queer-Feminismus: Sie argumentierte, dass die Hamas gerade so das wahre Judentum, im Kern eine ewige, nicht-identitäre Diaspora, vor seinem nationalstaatlichen, identitären Irrweg schütze.

Balzer geht mit diesen Reaktionen der Woke-Bewegung auf das grösste Judenmassaker seit der Shoah hart ins Gericht. Er attestiert ihr eine klirrende Kälte gegenüber den Leiden der Israeli, gar den moralischen Bankrott, sympathisiere sie doch mit einer terroristischen Vereinigung, «die ein zutiefst patriarchales, misogynes, homo- und transfeindliches Weltbild pflegt».

Der Autor, der sich selbst der linken Postmoderne zurechnet, verfolgt dabei drei Ziele. Er zeichnet sehr kenntnisreich die Geschichte der Woke-Bewegung nach, versucht, ihren Kern zu verteidigen, und fragt, warum sie «falsch abbog».

Unterwandert von rassistischen Elementen

Jens Balzer verortet die postmodernen Ursprünge der Wokeness in den Werken von schwarzen Intellektuellen wie Stuart Hall und Édouard Glissant. Sie formulierten die Idee einer hybriden, fluiden, heterogenen kulturellen Identität als Protest marginalisierter Gruppen gegen eine repressive Leitkultur. Die Wurzeln dieses Widerstands, zeigt Balzer, reichen bis zur Emanzipationsbewegung der Schwarzen in den dreissiger Jahren zurück. Damals kam der Begriff «woke» auf, zunächst als Mahnung des Bluessängers Lead Belly, sich vor weissen Lynchmobs zu hüten und wachsam zu bleiben.

Das Wort fand Eingang in den Slang, bis es schliesslich so viel bedeutete wie «sich selbst hinterfragen und die anderen respektieren». Diese liberal-demokratische Maxime, so der Autor, bleibe der gute Kern der Wokeness. Warum dann die Fehlentwicklung? Weil die Bewegung zum einen von rassistischen Elementen unterwandert wurde, so im Afrozentrismus der Nation of Islam, die die Juden als die wahren Betreiber des europäischen Sklavenhandels anprangerte.

Der Postkolonialismus richtete sich zunächst rein kritisch gegen den europäischen Kolonialismus. Um das Jahr 2000 vollzog er eine Wende zum Indigenen und zur Idee, dass die von der westlichen Moderne unberührten Kulturen und Völker authentisch und makellos seien.

Nach der «Critical Whiteness Theory» sind dagegen alle Weissen – Juden mitgerechnet – «allein aufgrund ihrer Hautfarbe unauflösbar in die Geschichte und Gegenwart der rassistischen Diskriminierung verstrickt». Altbekannte binäre Simplifizierungen also, mit umgekehrtem Vorzeichen.

Starre Erzählung

Doch am Kernproblem der Postmoderne, der Leugnung einer von unseren Interpretationen und sozialen Konstrukten unabhängigen Wirklichkeit, scheitert auch Jens Balzer. Wie konstruiert man etwas ohne festen Grund, ohne vorgegebene Bauteile? Der Liberalismus, den Balzer bejaht, ist ein Versuch, unsere Verletzbarkeit und unseren Freiheitsdrang in Einklang zu bringen – zwei wesentliche Aspekte der menschlichen Natur.

Balzer sieht Israels Existenzrecht begründet in einer für ihn verständlichen «Sehnsucht nach sicheren Räumen, ‹safer spaces›, und nach kollektiver Identifizierung». Paradoxerweise führt dieses Argument aber dann direkt zur Idee des Nationalstaats, auf die sich die Ideologen aller Völker berufen, auch die Hamas. So fluide der Wokeismus auch bleiben möchte: Entweder akzeptiert er die festen Strukturen unserer Natur, oder er verkommt zu einer starren und potenziell gefährlichen Erzählung.

Jens Balzer: After Woke. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 105 S., Fr. 18.90.

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