Nach dem Mord an einem jungen Muslim in Südfrankreich diskutiert das Land über Rassismus und Islamophobie. Linke Politiker werfen der Regierung eine Mitschuld an der Tat vor.
Olivier H. wollte als Serienmörder Schlagzeilen machen. Nicht nur einen Mann, sondern mindestens noch zwei weitere Personen wollte er töten. Das hatte der 21-jährige Franzose bosnischer Herkunft nach seinem Mord an dem 23-jährigen Malier Aboubakar Cissé in einem Videoclip angekündigt.
Die Bluttat ereignete sich am vergangenen Freitag in La Grand-Combe, einer heruntergekommenen ehemaligen Bergbaustadt im Süden Frankreichs. Olivier H. hatte am frühen Morgen die kleine unscheinbare Moschee des Ortes betreten. Dort traf er auf Cissé, der das Gebäude ehrenamtlich putzte und sich gerade für das Freitagsgebet vorbereitete.
Täter in die Enge getrieben
Die beiden wechselten einige Worte. Offenbar wollte H. von Cissé vorgeführt bekommen, wie man richtig betet. Als sich der junge Einwanderer aus Mali zum Gebet niederkniete, schien es ihm H. nachzumachen. Doch dann zückte er ein langes Messer und stach etwa fünfzig Mal auf sein Opfer ein. Das hielt eine Überwachungskamera fest.
Den sterbenden Cissé filmte H. mit seinem Handy. Und schrie dabei: «Ich habe es getan, ich habe es getan! Scheiss auf deinen Allah!» Den Videoclip der Tat schickte er an eine Kontaktperson, welche die Aufnahme im Internet verbreitete. Dann ergriff H. die Flucht und verliess das Land.
Schon am späten Sonntagabend stellte er sich jedoch auf einer Polizeiwache in Pistoia bei Florenz. Vorausgegangen war eine intensive Fahndung, an der mehr als siebzig Ermittler beteiligt waren. Der Tatverdächtige sei zum Schluss, so formulierte es ein Sprecher der Staatsanwaltschaft, «in die Enge getrieben worden, gefangen wie in einem Schraubstock».
Abdelkrim Grini, der Staatsanwalt von Alès, sagte der Presse, dass die Ermittler von einer «rassistischen und antimuslimischen» Tat ausgingen, man aber andere Erklärungen wie psychische Störungen nicht ausschliessen wolle. Olivier H., der 2004 in Lyon als Kind christlicher Bosnier geboren wurde, war bis zur Tat der Polizei nicht aufgefallen. Er lebte von Arbeitslosenhilfe und verbrachte seine Zeit vor allem mit Videospielen.
Womöglich, so zitiert «Le Monde» einen Ermittler, habe H., der als Serienmörder zweifelhafte Berühmtheit erlangen wollte, die Moschee als Gelegenheitsziel gewählt. Man lasse die Möglichkeit eines «antimuslimischen Aktes» keineswegs ausser acht, es gebe aber noch andere Arbeitshypothesen, sagte auch der französische Innenminister Bruno Retailleau, welcher der Region am Sonntag einen Besuch abstattete.
Retailleau kündigte zudem an, sämtliche Moscheen im Land unter verstärkten Schutz zu stellen. Bereits am Wochenende wurden in vielen Städten zusätzliche Polizeistreifen vor muslimischen Gebetshäusern positioniert. Dennoch warfen linke Oppositionspolitiker dem konservativen Innenminister und der Regierung vor, mit ihrer Rhetorik gegenüber Muslimen ein Klima geschaffen zu haben, das solche Taten überhaupt erst begünstigen würde.
Am Sonntag versammelten sich in Paris mehrere hundert Demonstranten zu einem «Marsch gegen Islamophobie» auf der Place de la République. Aufgerufen hatten muslimische Organisationen und die linksradikale Partei La France Insoumise. Jean-Luc Mélenchon, deren Anführer, trat auf der Kundgebung auf und warf der Regierung vor, Muslime systematisch zu stigmatisieren. «Islamophobie tötet. Und alle, die dazu beitragen, sind mitschuldig», rief er unter dem Applaus der Menge.
Ritchy Thibault, ein Mitglied der Partei, rief dabei sogar zur «Bildung von Selbstverteidigungsbrigaden im ganzen Land» auf. «Wir können uns nicht auf die Institutionen verlassen. Polizei und Justiz sind Vehikel für Islamophobie und Rassismus. Wir können nur auf uns selbst zählen», sagte er. In La Grand-Combre hatten sich zuvor über tausend Personen zu einem Schweigemarsch für das Opfer Aboubakar Cissé versammelt.
Rückgang antimuslimischer Vorfälle
Nach Angaben des Innenministeriums wurden im vergangenen Jahr 173 antimuslimische Vorfälle in Frankreich registriert – ein Rückgang um 29 Prozent gegenüber 2023, als 242 Vorfälle gemeldet worden waren. Retailleau hatte die Statistik erst kürzlich präsentiert, aber auch darauf hingewiesen, dass die tatsächliche Zahl wohl höher liege, da viele Betroffene keine Anzeige erstatteten. Antimuslimische Taten machten demnach etwa sieben Prozent aller antireligiösen Straftaten im Land aus.
Ob es sich bei diesen Taten um «Islamophobie» handelt, ist in Frankreich allerdings heftig umstritten und eine ideologisch aufgeladene Frage. Während muslimische Organisationen und Teile der Linken den Begriff als Bezeichnung für Muslimfeindlichkeit verwenden, lehnen ihn viele Vertreter der bürgerlichen Mitte und der Rechten ab, weil sie darin den Versuch sehen, Kritik an religiösen Praktiken unzulässig zu delegitimieren.
So sprach Jordan Bardella, der Chef des rechtsnationalen Rassemblement national, am Samstag von einem «niederträchtigen Attentat», während der zentristische Premierminister François Bayrou die Tat als «islamophobe Schande» bezeichnete. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bekundete der Familie des Opfers sowie allen Bürgern muslimischen Glaubens die «Unterstützung der Nation». Von Islamophobie wollte aber auch er nicht sprechen.