Dienstag, November 5

88 Theaterstücke hat Euripides geschrieben, 19 sind erhalten. Ein in Ägypten gefundener Text gibt jetzt Einblick in zwei verlorene Werke des griechischen Dichters aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.

Um bei den «girls today in society» Eindruck zu machen, müsse man Aischylos oder Euripides zitieren können. So heisst es in einem Song von Cole Porter. Wer das befolgen will, hat jetzt neue Zitate parat. 2022 wurde bei Ausgrabungen im antiken Philadelphia südwestlich von Kairo ein Papyrus entdeckt, der kürzlich von Spezialisten der University of Boulder in Colorado identifiziert wurde. Dabei zeigte sich, dass er 97 Verse aus den Tragödien «Ino» und «Polyidos» von Euripides enthält.

Der Fund war überraschend, obwohl bei Grabungen immer wieder Papyri zutage treten. Sie haben sich vor allem in Ägypten erhalten, wo der heisse, trockene Wüstensand die antiken Siedlungen mitsamt ihren Abfallhaufen luftdicht abschloss. Dadurch wurden sie besser konserviert als an anderen Orten im Mittelmeerraum. Die meisten Texte, die sich auf den Papyri finden, sind griechisch. Denn Ägypten wurde ab der Ptolemäerzeit am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. von Griechen besiedelt und blieb auch nach der Eroberung durch die Römer griechischsprachig.

Bei systematischen Ausgrabungen Ende des 19. Jahrhunderts setzten grosse Papyrusfunde ein. Neben Verträgen, Rechnungen sowie amtlichen und privaten Briefen brachten sie auch zahlreiche bekannte und noch mehr unbekannte literarische Texte ans Licht. Zum Teil kleine, wenige Zeilen enthaltende Schnipsel aus Tragödien, Gedichten oder Prosatexten, oft aber auch ganze Werke oder grosse Teile davon. Die Komödien des Dichters Menander (4./3. Jahrhundert v. Chr.) wurden erst durch Papyrusfunde überhaupt bekannt.

Euripides auf Rang zwei

Im Gegensatz zu den in mittelalterlichen Handschriften überlieferten Texten, die durch die Hände mehrerer Schreiber aus mehreren Jahrhunderten gegangen sind und durch viele Abschreibfehler entstellt sind, geben die Papyri eine um viele Jahrhunderte ältere Form der Texte wieder. Die Form, in der sie in der Antike und der Spätantike zirkulierten – zwar auch nicht fehlerfrei, aber direkter und authentischer als die spätere Überlieferung.

Das gilt auch für die Werke der drei grossen Tragödiendichter des 5. Jahrhunderts v. Chr. Von Aischylos, Sophokles und Euripides ist nur ein Bruchteil überliefert. Von den 90 Aischylos zugeschriebenen Stücken nur 7, ebenfalls 7 von den 113 des Sophokles und 19 von den 88 des Euripides. Dieses Bild wurde durch Papyrusfunde mit Teilen bisher unbekannter Stücke erweitert. Besonders viele Texte enthalten Stücke von Euripides.

Seine Stücke oder zumindest Zitate daraus waren ausserordentlich beliebt, auch Jahrhunderte nachdem die Stücke erstmals aufgeführt worden waren. Ein Bestseller gewissermassen. Euripides liegt mit über 80 Papyri an zweiter Stelle unter den Autoren, von denen sich Texte fanden – zwar weit hinter Homer mit über 650 Papyri. Aber deutlich vor Aischylos mit etwa 30 und Sophokles mit rund 15 Papyri.

Das Rasen der Eifersucht

Der Papyrus aus Philadelphia ist auf beiden Seiten beschrieben. Die Vorderseite dokumentiert eine Landvermessung vom Ende des 2. Jahrhunderts, während die Euripides-Verse auf die Rückseite geschrieben wurden. Und zwar, wie die Schriftform zeigt, um die Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr.

Zwei Textkolumnen sind erhalten, nur links fehlen zwei bis vier Buchstaben. In Zeile 38 der ersten Kolumne zeigt das Wort «polyidou», dass der folgende Text aus der Tragödie «Polyidos» stammt. Dass es sich um das Stück von Euripides handelt, beweisen acht Verse, die aus anderen Quellen bereits als Euripides-Zitate bezeugt sind. Vier weitere aus bisher unbekannten Tragödien und zwei bisher fälschlich einem anderen Stück zugeschriebene können nun dem «Polyidos» zugewiesen werden. Die ersten 37 Verse der linken Kolumne stammen, wie Zitate bei einem spätantiken Autor bezeugen, aus der «Ino» von Euripides.

Trotz dem fragmentarischen Zustand des Textes lässt sich die Handlung beider Tragödien aufgrund von antiken Inhaltsangaben einigermassen rekonstruieren: Ino ist die zweite Frau des Königs Athamas von Böotien. Als sie sich dem ekstatischen Zug des Gottes Dionysos anschliesst und Athamas sie für verschollen hält, heiratet er Themisto, die ihm Zwillingssöhne gebiert. Als Ino wieder zurückkehrt, wird sie zwar von Athamas erkannt. Er will sie aber seiner neuen Frau verbergen und nimmt sie als Kindermädchen bei sich auf.

Göttliche Gesetze

Themisto ihrerseits will aus Eifersucht Inos Kinder töten, doch durch Kleidertausch erreicht Ino, dass Themisto ihre eigenen Kinder tötet und nicht die von Ino. Themisto begeht daraufhin Selbstmord, Athamas wird von Wahnsinn befallen und tötet auf einer Jagd den Learchos, worauf Ino flieht und von einem Felsen ins Meer springt. Von Zeus werden beide in die Meeresgötter Leukothea und Palaimon verwandelt.

Polyidos, ein berühmter Seher, wird von König Minos zu Hilfe gerufen, um seinen verschwundenen Sohn Glaukos zu finden. Er entdeckt diesen tot in einem Honigfass und erklärt, er könne ihn nicht wieder zum Leben erwecken. Daraufhin sperrt ihn Minos zusammen mit der Leiche in ein Grab, bis er Glaukos wieder lebendig machen werde. Im Grab tötet Polyidos eine Schlange und sieht, wie eine zweite Schlange ein Kraut auf die tote Schlange legt, worauf diese wieder lebendig wird. Mit demselben Kraut ruft er Glaukos ins Leben zurück und wird von Minos reich belohnt in seine Heimat entlassen.

Die neuen Verse der «Ino» stammen aus der Szene, in der Ino über die verzweifelte Themisto triumphiert, die soeben den Tod ihrer eigenen Kinder entdeckt hat – freilich noch ohne zu wissen, dass bald auch ihr eigener Sohn sterben wird. Aus dem «Polyidos» bringt der neue Papyrus ein Streitgespräch zwischen Polyidos und Minos. Der Seher geisselt die Forderung des Königs, Glaukos wieder zum Leben zu erwecken, als Überschreitung göttlicher Gesetze.

«Im Reichtum liegt doch Torheit»

Allerdings handelt es sich in beiden Fällen nicht um einen fortlaufenden Text. Die Papyrusrolle enthielt offensichtlich nicht die vollständigen Tragödien, sondern nur einzelne Verse und Versgruppen daraus. Eine Anthologie von Euripides-Zitaten also, die den, der die Texte exzerpierte, besonders interessierten. Die Herausgeber vermuten, dass es sich bei ihm um «a ‹higher education› teacher» handelte. Er stellte die Verse für den Schulunterricht zusammen oder als Fundus für Reden, die mit Dichterzitaten gewürzt werden sollten.

Dafür ist die Auswahl tatsächlich geeignet. Da heisst es zum Beispiel: «Uralte Satzungen verbieten es, sich in zwei Betten zu vergnügen», oder: «Ehrenvoll ist’s, in gerechter Sache zu siegen, doch immer schlimm, in einer ungerechten.» Nicht verschliessen mag man sich auch der Erkenntnis: «Geld ist wertvoll für die Menschen, nicht nur bei Wein und Schmaus, nein, auch in harten Zeiten vermag es Sicherheit zu bieten.»

Der Vers «Für Sterbliche gibt’s keinen Schutz vor der Notwendigkeit» formuliert elegant eine grundlegende antike Lebensregel, und schliesslich erinnern zwei Verse daran, dass Geld nicht das höchste der Dinge ist: «Nein, gib Reichtum mir nicht für mein Leben, denn schlechter Tausch wär’ es, das Leben dafür herzugeben» heisst es. Oder: «Du bist zwar reich, doch glaube nicht, dass du auch weise bist: Im Reichtum liegt doch Torheit, während in Not zur Armut Weisheit sich gesellt.» Euripides, ein Meister der Sentenzen und Aphorismen, hat auch hier Prägnantes formuliert. Ob die Damen der Gesellschaft damit zu gewinnen wären, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Heinz Hofmann ist emeritierter Professor für lateinische Philologie an der Universität Tübingen.

Exit mobile version