Der Luftfahrtzulieferer kann von der Rückrufkrise seines Partners Pratt & Whitney profitieren und erhöht überraschend die Gewinnprognose für 2024. Der Schub im Ersatzteil- und Wartungsgeschäft dürfte über Jahre andauern. Der Investorentag im November könnte dem Kurs weiteren Schwung verleihen.
Drei Jahre nach den Corona-Lockdowns leben Luftfahrtzulieferer in der besten aller Welten. Längst sind die Geschäftsreisenden in die Flieger zurückgekehrt: Die Branche hat die Pandemie überwunden.
Diesen Sommer wurde so viel geflogen wie vor Covid
Doch Flugzeughersteller können die nötigen Maschinen kaum liefern: Die US-Luftfahrtaufsicht FAA erlaubt Boeing nicht, die Produktion des Mittelstreckenjets 737max hochzufahren, bis die Qualitätskontrollen besser werden. Airbus reduzierte im Sommer ihre Produktionspläne, da Zulieferer manche Teile nicht liefern konnten. Seit einem Rückruf durch den US-Triebwerkshersteller Pratt & Whitney vor einem Jahr stehen zudem stets hunderte Airbus-Maschinen zusätzlich am Boden.
Die Airlines müssen ihre Flugzeuge also länger nutzen und öfter warten. Für die Zulieferer heisst das: Die Nachfrage nach ihren Ersatzteilen und Wartungsleistungen steigt kräftig. Der Aktienkurs der weltgrössten Zulieferer GE Aerospace und TransDigm, Rolls-Royce, Safran und MTU Aero Engines kennt seit Monaten fast nur eine Richtung: nach oben. «Wenn Goldgräberzeiten wie jetzt in der Flugzeugindustrie herrschen, kaufen wir die Schaufeln, nicht die Goldminen», gibt Vera Diehl, Fondsmanagerin von Union Investment, die Richtung vor.
Bei MTU läuft es sogar besonders gut: Am Dienstagmittag hob der Dax-Konzern überraschend seine Gewinnprognose für das Geschäftsjahr 2024 leicht an, der Aktienkurs gewann fast 6% auf über 306 €.
MTU teilte ad-hoc mit, man rechne für 2024 mit einem bereinigten Ebit von etwas über 1 Mrd. € statt bisher 0,95 Mrd. bis 0,98 Mrd. Die Anpassung basiere auf einer «positiven Entwicklung in allen Geschäftsfeldern in einem weiterhin herausfordernden Marktumfeld». Am Dienstagmorgen hatte JPMorgan eine Studie veröffentlicht, in der Analyst David Perry über eine Prognoseerhöhung spekulierte und sein Kursziel um 45 auf 370 € nach oben setzte, das höchste aller Analysehäuser.
Die Aktien sind zuletzt schon kräftig gestiegen und belegen im Momentum Screen von The Market, der Aktien nach ihrer relativen Stärke sortiert, Platz vier von vierzig Dax-Mitgliedern. Am Montag hatte sie erstmals über ihrem 2020 erreichten bisherigen Rekordhoch von 289.30 € geschlossen.
Kapitalmarkttag im November als Katalysator?
Zuletzt häuften sich die positiven Einschätzungen: MTU habe sich von allen Aftermarket-Aktien in der Luftfahrt am langsamsten auf die vor Covid erreichten Kursniveaus erholt, befand Bernstein-Analyst George Zhao Ende September. Bernstein, JPMorgan, UBS und Barclays sahen nicht im Kurs reflektiert, dass die Umsätze und Gewinne mit Triebwerkswartung und Ersatzteilgeschäft ihr Wachstumstempo beschleunigen.
Die Investoren hegen grosse Erwartungen an die Bekanntgabe der Quartalszahlen am 24. Oktober und an den Kapitalmarkttag am 29. November. Dann wird CEO Lars Wagner einen Mittelfristplan für 2025 bis 2030 vorlegen – voraussichtlich mit höheren Margenzielen.
Mittelfristig, wenn die Sonderausgaben für das seit einem Jahr laufende Inspektionsprogramm für sogenannte Getriebefan-Triebwerke (GTF-Triebwerke) wegfallen, werde auch der freie Cashflow wachsen, kalkuliert JPMorgan. MTU werde dann die Früchte seiner über die vergangene Dekade geleisteten, hohen Investitionen einfahren.
Der teure GTF-Rückruf
Der langjährige Technikchef Wagner war Anfang 2023 an die Spitze des Dax-Konzerns aufgestiegen und musste neun Monate später die grösste Krise seit Covid bewältigen: MTUs wichtigster Partner Pratt & Whitney gestand ein, dass wegen Fehlbeschichtungen durch verunreinigte Metallpulver ein Grossteil der mit MTU entwickelten GTF-Triebwerke überprüft werden müssen.
Mehr als 3000 Triebwerke müssen in die Inspektion. 600 bis 700 Shop Visits sind zusätzlich zu den üblichen Wartungsintervallen nötig, um fehlbeschichtete Metallscheiben auszutauschen. Bis 2026 bleiben jeden Tag durchschnittlich 350 Airbus A320neo zusätzlich am Boden. Die Airlines dafür zu kompensieren, macht den Grossteil der auf 6 Mrd. bis 7 Mrd. $ taxierten Rückrufkosten aus
MTUs Komponenten sind nicht betroffen. Dennoch muss MTU entsprechend ihres Programmanteils von 18% für die Kosten aufkommen, bildete 2023 dafür eine Rückstellung über 1 Mrd. € und schloss das Jahr mit Verlust ab, zum ersten Mal in der 90-jährigen Geschichte. Die Dividende wurde um 1.20 auf 2 € gekürzt.
An der Börse wurde MTU zunächst abgestraft. Investoren beunruhigt vor allem die Belastung der Cashflows bis 2026, die laut MTU auch die Dividenden bis 2026 begrenzt. Seither wird betont, dass das Inspektionsprogramm nach Plan abgearbeitet werde. JPMorgan-Analyst Perry erwartet, dass keine neuen Technikprobleme auftauchen und es bei den geplanten Rückrufkosten bleibt.
MTU profitiert durch mehr Wartungsgeschäft
Zuletzt setzte sich die Sichtweise durch, dass MTU von der GTF-Krise auch profitiert. Die Münchner haben zusätzliche Wartungsaufträge mit Pratt ausgehandelt. «MTU macht gegen eine höhere Marge Teile der Instandhaltungskapazität frei, um Pratt auszuhelfen», sagt Nicolas Schmidlin, Mitgründer der Kölner Fondsgesellschaft Profitlich Schmidlin. «Ausserdem profitiert MTU im Ersatzteilgeschäft von der höheren Auslastung des älteren V2500-Triebwerksmodells.»
Da Hunderte A320neo am Boden bleiben müssen, lassen die Airlines ältere Flugzeuge länger fliegen. Für MTU bedeutet das, dass die Airlines eigentlich schon aussortierte Triebwerke ein weiteres Mal generalüberholen lassen – grossteils bei MTU.
Geschäftsmodell auf zwei Säulen
MTUs Geschäft ruht auf zwei Säulen: erstens der Produktion von Triebwerkskomponenten wie Niederdruckturbinen und Verdichter inklusive des damit verbundenen Ersatzteilgeschäfts. Der Grossteil wird zivil eingesetzt, der Militäranteil liegt unter 10% und dürfte wegen des stärkeren Wachstums im zivilen Bereich mittelfristig eher sinken.
In der zweiten Sparte MRO (Maintenance, Repair, Overhaul) wartet MTU Triebwerke aller grosser Hersteller, auch von GE Aerospace oder Rolls-Royce. Die Münchner sehen sich als weltgrösste unabhängige Wartungsfirma. Und die Nachfrage wächst – siehe oben – drastisch.
Das Geschäft ist bei hohen Eintrittsbarrieren stabil. Selbst während der Pandemie 2020, als kaum noch Flugzeuge flogen, schnitt MTU mit Gewinn ab. Die Triebwerke werden mit leichtem Verlust verkauft, der Gewinn später mit Wartungs- und Ersatzteilgeschäft eingefahren. Der Gewinnanteil des Ersatzteilgeschäfts wird von MTU nicht separat ausgewiesen, sondern mit dem Triebwerksgeschäft berichtet.
Je älter die eingesetzten Triebwerke sind, desto mehr müssen sie gewartet werden und desto mehr Ersatzteile benötigen sie. Das GTF-Vorgängertriebwerk V2500 (MTU-Anteil 16%) für A319, A320 und A321 ging 1989 in Betrieb, wurde bis 2018 ausgeliefert und fliegt bis circa 2040. Der Gewinn mit dem V2500 läuft gerade erst richtig hoch, etwa 5000 bis 6000 dieser Triebwerke fliegen jeden Tag.
Vom GTF werden laut MTU 14’000 Stück allein bis 2032 ausgeliefert, während an V2500 über den gesamten Produktzyklus «nur» 7800 Maschinen verkauft wurden. Das GTF-Triebwerk gilt als das klimafreundlichste auf dem Markt; Betriebskosten, CO2-Ausstoss und Lärm sind jeweils um zweistellige Prozentsätze reduziert.
Die Analysten sehen deshalb für MTU deutlich bessere Perspektiven als beim letzten Höchst 2020, was das Wachstum von Umsatz und Ebit für die kommenden Jahre angeht.
Schätzungen für MTUs Umsatzplus sind höher als 2020…
…und auch die Aussichten für das Ebit sind deutlich besser
MTU veröffentlichte am Dienstag ad-hoc zudem vorläufige Zahlen für die ersten neun Monate 2024. Demnach stieg der bereinigte Umsatz 15% auf 5,29 Mrd. €. Das bereinigte Ebit erreichte 744 Mio. €, was einer bereinigten Ebit-Marge von 14% entspricht. Fürs erste Halbjahr hatte MTU noch eine Marge von 13,7% (Vorjahreszeitraum: 13%) und 10% Umsatzzuwachs gemeldet. An der Jahresprognose für den Umsatz hält das Management fest und erwartet 7,3 Mrd. bis 7,5 Mrd. € (2023: bereinigt 6,3 Mrd. €).
In den vergangenen Jahren ist MTU kräftiger gewachsen als alle grossen Rivalen. Das Unternehmen hat auch mehr in den Ausbau der Kapazität investiert, vor allem in die Instandhaltungsstandorte. Dies belastete Marge, Cashflow und Kapitalrendite.
Aus Sicht der Investoren könnten sich die Investitionen in den nächsten Jahren auszahlen. «Der Grossteil des Gewinns speist sich derzeit aus dem Wartungsgeschäft und den Ersatzteilen für die V2500, beides wird noch jahrelang für Gewinn sorgen», sagt Schmidlin. Mit dem Hochlauf des bis dato verlustbringenden GTF-Programms und der MRO-Aktivitäten dürften die Renditen in den nächsten Jahren deutlich zunehmen.
(Zu) Hohe Bilanzqualität
MTUs Finanzmanagement ist konservativ, der Konzern hat seit 2010 ununterbrochen ein Investment-Grade-Rating. Trotz der hohen GTF-Ausgaben stiegen die Nettofinanzschulden per Juni 2024 nur leicht auf 711 Mio. €. Analysten von UBS erwarten, dass der Verschuldungsgrad Ende 2024 nahezu das untere Ende der von MTU angepeilten 0,5 bis 1,5 erreichen und 2025 darunter sinken wird.
«Dann stellt sich die Frage: wohin mit dem überschüssigen Kapital», sagt Fondsmanager Schmidlin. Er hofft, dass sich das MTU-Management im November erstmals zu Aktienrückkäufen durchringt. Die stellt MTU seit Jahren in Aussicht, doch kamen erst die Pandemie und dann der GTF-Rückruf dazwischen. Erste Priorität dürfte allerdings sein, die angepeilte Ausschüttungsquote von 40% zu erreichen.
Das Risiko Pratt & Whitney
MTU unterliegt den üblichen Risiken der Luftfahrtbranche aus Kriegen, Terroranschlägen oder Pandemien. Als zusätzliches Risiko sehen manche die hohe Abhängigkeit von Pratt & Whitney, einer Tochter des US-Rüstungskonzerns RTX. Dort herrsche eine «sehr amerikanische Kultur», sagt Fondsmanager Schmidlin. Will heissen: der kurzfristige wird schon mal über den langfristigen Erfolg gestellt. Für Union-Fondsmanagerin Diehl reicht das als Grund, das mit dem GTF konkurrierende Leap-Konsortium aus GE Aerospace und der französischen Safran zu bevorzugen.
MTU arbeitet zwar mit allen Triebwerksherstellern zusammen und weitet zudem ihr Militärgeschäft aus, etwa durch ein Bündnis mit der französischen Safran für Hubschraubertriebwerke. Mit Pratt bleibt man trotzdem auf Gedeih und Verderb verbunden, künftig sogar noch mehr: MTU wird ihren Anteil am GTF-Programm bis 2035/40 auf 25% erhöhen, gegenüber den aktuell 18% also eine Ausweitung um fast 40%.
Dagegen werde MTU «ganz anders geführt, von Ingenieuren, bedacht und mit langfristiger Weitsicht», sagt Schmidlin, der MTU seit 2016 prominent in seinem Fonds hält. Die technischen Risiken sind von aussen kaum zu bewerten. «Deshalb ist die Unternehmenskultur für uns elementar in der Analyse. Das Management identifiziert sich stark mit MTU.»
Denn technische Hindernisse verschwinden nicht automatisch, indem ständig Topmanager ausgetauscht werden. Zudem kann sich MTU über eine stete Flut qualifizierter Bewerber freuen. Unter Studierenden der Luft- und Raumfahrttechnik an der Technischen Universität München heisst es, «hier wollen alle zu MTU».
Relativ attraktive Bewertung
Die Bewertung von MTU liegt in etwa auf dem Durchschnittsniveau der vergangenen zehn Jahre, gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis von 20 (auf Basis des für die nächsten zwölf Monaten geschätzten Gewinns). Attraktiv ist sie vor allem im Vergleich zur Konkurrenz: Gegenüber den europäischen Triebwerksunternehmen Safran und Rolls-Royce hat MTU einen Bewertungsabschlag von rund 20%. Die US-Rivalen GE Aerospace und TransDigm notieren sogar fast doppelt so hoch.
«Wenn Investoren die Risiken des GTF-Rückrufs neu bewerten und MTUs verbesserte Aussichten verstehen, werden die Aktien die Bewertungslücke zu den europäischen Konkurrenten nach und nach schliessen», glaubt JPMorgan-Analyst Perry.
Fazit: MTU ist ein solides, top aufgestelltes High-Tech-Unternehmen in einem wachsenden Geschäft mit hohen Eintrittsbarrieren. Angesichts einer ordentlichen Bewertung darf allerdings nicht viel schiefgehen. Wer trotz der Luftfahrt-typischen Risiken in das Aftermarket-Triebwerksgeschäft investieren möchte, hat mit MTU eine deutlich attraktivere Einstiegsmöglichkeit als bei den Konkurrenten.