Thomas Wolfram, Dozent für Visuelle Kommunikation, plädiert für neutrale Symbole, von denen sich alle angesprochen fühlen.
Die Stadt Zürich wurde von Männern für Männer gebaut – davon ist die SP überzeugt, und sie will es ändern. Sie fordert den Stadtrat dazu auf, Verkehrssignale «geschlechtergerecht und diversitätsbewusst» zu gestalten. Vorbild ist die Stadt Genf, die den Mann mit Hut auf dem Schild, das einen Fussgängerstreifen anzeigt, durch eine Vielzahl anderer Motive ersetzt hat, zum Beispiel eine schwangere Frau oder ein lesbisches Paar. Der Vorstoss berührt das Fachgebiet von Thomas Wolfram, Dozent für Visuelle Kommunikation an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Kreativdirektor bei einer Markenagentur.
Herr Wolfram, ist Schweizer Design wirklich so neutral, klar und zeitlos, wie man sagt? Nehmen wir einmal das Verkehrsschild mit dem Mann mit Hut, der ein Mädchen an der Hand hält . . .
(lacht) Dieses Verkehrsschild ist stilistisch total aus der Zeit gefallen. Der Hut, der Rock. Das irritiert, keine Frage.
Warum denken viele dabei an Kindesentführung?
Das wiederum ist kurios. Heute ist es ja nichts Ungewöhnliches mehr, dass ein Vater mit seinem Kind spazieren geht – anders als zu jener Zeit, aus der dieses Schild stammt. Man könnte daher sogar sagen: Vom Symbol her ist dies eine sehr zeitgemässe Umsetzung des Themas.
Ist dieses Piktogramm verwirrend, weil es mehr Details enthält als fürs Verständnis nötig?
Damit sind wir bei der entscheidenden Frage: Wie neutral sollte ein Piktogramm sein? Was kann es zum Ausdruck bringen und was nicht?
Was sagen Sie zu dem Ansatz, auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, indem Piktogramme mehr Diversität abbilden?
Der Gedanke ist interessant, aber ich finde ihn nicht zielführend. Sobald ein Verkehrsschild spezifisch wird wie in Genf – eine schwangere Frau, zwei Frauen Hand in Hand –, kommt man nicht darum herum, andere Gruppen auszuschliessen. Zudem stellt sich dann die Frage, welches Symbol wir wo aufstellen und warum. All das steht mit Sinn und Zweck eines solchen Verkehrszeichens im Konflikt. Die Welt muss einfacher werden, nicht komplizierter. Darum sollten wir solche Schilder nicht überpolitisieren.
Kann man Vielfalt symbolisch überhaupt abbilden, ohne in Klischees zu verfallen?
Selbst wenn, würde ich es bei Verkehrsschildern gar nicht erst versuchen.
Sondern?
Es sollten neutrale Piktogramme im Zentrum stehen, die alle Menschen genau gleich ansprechen, ohne Unterschiede zu betonen.
Was macht ein gutes Verkehrsschild aus?
Schweizer Design zeichnet sich durch Funktionalität aus. Es kommt ohne Schnickschnack aus, jedes Detail stimmt. Und es geht immer von der Perspektive der Benutzerinnen und Benutzer aus. Bei Verkehrsschildern heisst das: Sie müssen selbst unter schwierigen Bedingungen auf einen Blick zu lesen sein. Sie müssen einfach, klar und eindeutig sein.
Genügen unsere Schilder diesen Anforderungen durchgehend?
Nein, bei unseren Verkehrsschildern herrscht ein riesiges Durcheinander von verschiedenen Stilen und Abstraktionsgraden. Das Ganze ist nicht kohärent. Darum gibt es solche, die plötzlich nicht mehr zeitgemäss wirken, weil sich die Gesellschaft verändert hat. Ich denke an die Form der Autos, die Dampflok, den schaufelnden Bauarbeiter. Ein Symbol kann wegen des gesellschaftlichen Wandels auch eine neue Bedeutung annehmen.
Weil sich zum Beispiel Frauen durch eine männliche Figur nicht mehr repräsentiert fühlen. Die berühmten Ampelmännchen aus der DDR tragen einen Hut und sind eindeutig Männer. Welches Geschlecht haben sie in Zürich?
Gute Frage. Die Figur auf unseren Ampeln dünkt mich recht neutral. Auch wenn sie eine Hose trägt.
Auch viele Frauen tragen Hosen. Mensch mit Hose gleich Mann, Mensch mit Rock gleich Frau – ist das der Standard im Grafikdesign?
Nein, überhaupt nicht. In der Regel wählt man Piktogramme von Personen, die neutral erscheinen. An den Olympischen Spielen etwa sind die Symbole für die Disziplinen die gleichen, egal, ob dort Frauen oder Männer Basketball spielen. Eine Differenzierung ist nur nötig, wenn man zum Beispiel Toiletten für Männer und Frauen trennen will.
Also kein Handlungsbedarf bei unseren Lichtsignalen?
Bei den Lichtsignalen ist man etwas flexibler als bei Verkehrsschildern, weil man dort gestanzte Blenden vor die Lampen montieren kann. So kann man für besondere Anlässe wie zum Beispiel die «Pride» die Symbole vorübergehend austauschen. Verschiedene Städte machen das so, dagegen ist nichts einzuwenden. In der Regel aber sollten die Piktogramme so neutral sein, dass man im Alltag nicht darüber nachdenken muss, ob sie angemessen sind oder nicht.
Auch Standards werden immer wieder neu ausgehandelt. Vielleicht ändert sich ja gerade die Lehrmeinung, was ein gutes Piktogramm ist.
Das geschieht bereits, allerdings in einem anderen Sinn. Es gab lange eine Tendenz, Piktogramme mehr und mehr zu vereinfachen. Das ist grundsätzlich gut, denn so reduziert man sie aufs Wesentliche. Man streicht so lange Überflüssiges weg, bis es nicht mehr geht.
Männer mit Hüten hätten diesbezüglich also noch Potenzial.
Genau. Aber dieser Ansatz führte zu einer puristischen Radikalität, die inzwischen eine Gegenbewegung ausgelöst hat. Es darf wieder etwas mehr Lust ins Design von Piktogrammen einfliessen, eine minimale Verspieltheit.
Könnte so vielleicht doch eine Tür für Diversität auf Verkehrsschildern aufgehen?
Nein, es geht dabei nicht um Diversität, die zu unterschiedlichen Schildern führt. Funktionalität hat in diesem Bereich oberste Priorität. Aber wenn die Grundfunktion erfüllt ist, kann man sich im Stil kleine Freiheiten erlauben. Zur Durchdachtheit im Schweizer Design gehört immer auch ein gewisses Raffinement, ein Augenzwinkern. Piktogramme müssen neutral sein, aber diese Neutralität muss nicht brutal langweilig sein.