Neben dem britischen Premierminister haben der schottische Regionalpräsident und neu auch der First Minister von Wales Wurzeln in den ehemaligen Kolonien. Warum schaffen es gerade in Grossbritannien so viele dunkelhäutige Politiker an die Spitze?
Als die Eltern Gething 1976 mit ihrem zweijährigen Kind Vaughan von Sambia nach Wales einwanderten, deutete wenig darauf hin, dass dem dunkelhäutigen Sohn eines weissen Briten und einer schwarzen Afrikanerin in Grossbritannien eine steile politische Karriere bevorstehen würde. Im britischen Unterhaus sassen damals ausnahmslos weisse Abgeordnete. 1986, als Vaughan Gething ein Teenager war, zogen erstmals vier Abgeordnete mit Wurzeln in den einstigen britischen Kolonien in Asien und der Karibik ins Parlament ein. 2002 nahm der erste schwarze Politiker als hochrangiger Minister am Kabinettstisch Platz. Das zweite nichtweisse Regierungsmitglied folgte 2013.
Vor wenigen Wochen nun avancierte der Labour-Politiker Gething zum neuen First Minister von Wales – und sorgte damit als erster schwarzer Regierungschef einer europäischen Nation international für Schlagzeilen. Ebenso bemerkenswert wie diese Nachricht war der Umstand, dass die britische Öffentlichkeit mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Understatement darauf reagierte. Multikulturalität und Diversität sind im britischen Politbetrieb zur Normalität geworden.
Gezielte Förderung durch Parteien
Gething ist denn auch kein Einzelfall: Seit 2022 amtiert der indischstämmige Rishi Sunak als britischer Premierminister. In Edinburg avancierte der pakistanischstämmige Humza Yousaf aus den Reihen der Scottish National Party (SNP) 2023 zum schottischen Regionalpräsidenten. In London regiert seit 2016 der ebenfalls pakistanischstämmige Labour-Bürgermeister Sadiq Khan. Damit werden gleich vier der wichtigsten Exekutivämter Grossbritanniens von Politikern mit Wurzeln in den ehemaligen Kolonien bekleidet. Diese Vielfalt steht im Kontrast zu Kontinentaleuropa, wo Angehörige ethnischer Minderheiten in Spitzenämtern immer noch eine Seltenheit sind.
Die hohe Zahl an führenden Politikern mit asiatischen, afrikanischen oder karibischen Wurzeln ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Öffnung. Sie ist aber auch das Resultat gezielter Strategien der Parteien. Labour sieht sich traditionell als politische Heimat für Briten mit Migrationshintergrund. Das Umfrageinstitut Number Cruncher Politics schätzt, dass bei den Wahlen von 2019 mehr als 60 Prozent der ethnisch diversen Wähler für Labour gestimmt haben. In Wahlkreisen mit einem hohen jamaicanisch- oder pakistanischstämmigen Bevölkerungsanteil stellt die Labour-Partei in der Regel lokale Kandidaten mit entsprechendem kulturellem Hintergrund auf.
Anders die Konservativen: 2005 setzte sich der damalige Premierminister David Cameron das Ziel, Frauen und ethnisch diverse Kandidaten bei den Unterhauswahlen gezielt zu fördern. Antreten durften die dunkelhäutigen Kandidaten, die oft an Eliteuniversitäten wie Oxford oder Cambridge studiert hatten, in sogenannt sicheren konservativen Wahlkreisen mit grossmehrheitlich weissen Bewohnern.
Der in Südengland geborene Rishi Sunak beispielsweise wurde nach Yorkshire in den Norden Englands geschickt, wo er bis heute den ländlichen Wahlkreis Richmond vertritt. Als Folge dieser Bemühungen reifte im Parlament eine Generation von talentierten Tory-Abgeordneten mit Wurzeln in den einstigen Kolonien heran. Als Boris Johnson 2019 zum Premierminister avancierte, konnte er eine Rekordzahl von ethnisch diversen Politikern in Schlüsselpositionen seiner Regierung berufen.
Keine Idylle
In England definierten sich in der Volkszählung von 2021 rund 18 Prozent der Bevölkerung nicht als weiss. In Schottland und Wales hingegen sind rund 95 Prozent der Einwohner weiss. Für Sunder Katwala von der Denkfabrik British Future ist daher die Berufung von Yousaf und Gething an die Spitze der schottischen und der walisischen Regionalregierung besonders bedeutsam, wie er jüngst in einem Gastbeitrag in der Zeitung «Guardian» schrieb. Möglich geworden sei ihr Aufstieg nur, weil die Wähler die beiden Politiker nicht als Vertreter von Minderheiten, sondern als Vertreter der Gesamtbevölkerung anerkannt hätten.
Dennoch ist Grossbritannien keine multikulturelle Idylle. Rishi Sunak erklärt zwar immer wieder, er sei stolz, dass sein kultureller Hintergrund keine Rolle spiele. Trotz seiner Fachkompetenz aber verschmähte ihn die Basis der Konservativen im Rennen um die Nachfolge von Boris Johnson – zum Zug kam er erst nach dem Scheitern seiner Rivalin Liz Truss. Zudem ist die politische Debatte keineswegs frei von rassistischen Untertönen oder Entgleisungen. Vor wenigen Wochen erst schloss die Konservative Partei den Abgeordneten Lee Anderson aus der Fraktion aus, der behauptet hatte, der pakistanischstämmige Labour-Bürgermeister Khan stecke mit Islamisten unter einer Decke.
Die Prominenz von Politikern mit asiatischen oder afrikanischen Wurzeln bringt die Extreme des politischen Spektrums mitunter in argumentative Verlegenheit. Rechtsnationalisten sehen ihre These hinterfragt, wonach der britische Multikulturalismus gescheitert sei. Linksaktivisten sehen ihre These entkräftet, wonach das Land von strukturellem Rassismus geprägt sei. Zudem können sie schlecht damit umgehen, dass ausgerechnet Politikerinnen mit Migrationshintergrund wie die ehemaligen Innenministerinnen Priti Patel oder Suella Braverman rhetorisch besonders scharf gegen Migranten schiessen.
Multikulturelle Tradition
Insgesamt aber reagieren die Britinnen und Briten mit grosser Gelassenheit auf die neue Diversität ihres politischen Personals. Grossbritannien, dessen Empire einst einen Viertel der Welt umfasste, sah sich lange als multikulturelles Land, das Migranten keine Assimilierung abverlangte. Dies hat zwar zur Herausbildung von Parallelgesellschaften geführt und zu den identitätspolitischen Spannungen beigetragen, die seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges verstärkt hochkochen.
Gleichzeitig waren die Hürden zur Erlangung der Staatsbürgerschaft und damit für die politische Integration stets viel tiefer als etwa in Deutschland oder der Schweiz. Grossbritannien kennt bereits seit 1976 ein gesetzliches Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse. In Volkszählungen müssen die Briten detaillierte Fragen zu ihrem ethnischen Hintergrund beantworten, was in der «farbenblinden» Französischen Republik undenkbar wäre. Solche Daten werden auch im Gesundheitswesen, im Bildungssystem oder in den Kriminalitäts- und Arbeitsmarktstatistiken erhoben und öffentlich diskutiert. Das hat zur gezielten Förderung von Minderheiten an Universitäten oder in Unternehmen beigetragen.
Eine gewisse kulturelle Offenheit manifestierte sich selbst im Brexit. Die spätere Innenministerin Patel prägte im Abstimmungskampf von 2016 den Slogan «Stimme für den Brexit, und rette die Curry-Houses» – was suggerierte, die EU-Migranten würden nach dem Brexit durch Einwanderer aus dem alten Empire ersetzt. Seit dem Brexit kommen nun tatsächlich Migranten aus Ländern wie Nigeria, Pakistan oder Indien ins Land. Die rekordhohe Zuwanderung sorgt für hitzige Debatten wegen des Drucks auf die Infrastruktur, den Wohnungsmarkt oder das Gesundheitswesen. Fragen zur kulturellen und gesellschaftlichen Integration von Einwanderern von ausserhalb Europas sind derweil nur am Rand ein Thema.