Freitag, November 1

In der New Yorker Morgan Library wurde ein Manuskript entdeckt, das aller Wahrscheinlichkeit nach von Frédéric Chopin stammt. Es ist ein herrlich melancholisch getönter Walzer.

Gerade erst hat die Musikwelt bei Mozart etwas Neues lernen müssen. Seit Mitte September gibt es nämlich neben der berühmten «Kleinen Nachtmusik» fortan auch noch eine «Ganz kleine Nachtmusik»: ein zauberhaftes Fundstück, zwölf Minuten lang, um das sich die Ensembles bereits weltweit reissen. Jetzt sind es die Pianisten, die ganz unerwartet mit einem unbekannten Stück beschenkt werden, und zwar aus der Feder eines gerade für das Klavierrepertoire ähnlich bedeutenden Komponisten: Frédéric Chopin.

Das Werk stammt aus den Beständen der New Yorker Morgan Library in Manhattan. Dort entdeckte es der Kurator Robinson McClellan, als er sich, gemäss einem Bericht der «New York Times», die den Fund zuerst publik gemacht hat, im Frühsommer durch eine Sammlung von Memorabilia und Manuskripten arbeitete. Darunter fanden sich Postkarten von Picasso und Briefe von Brahms und Tschaikowsky. Die Katalognummer 147 weckte jedoch besondere Aufmerksamkeit: Über einem vergilbten, mit bräunlicher Tinte beschriebenen Manuskript prangten die Wörter «Valse» und «Chopin».

Typische Schreibweise

Das dazugehörige Musikstück umfasst 24 ausgearbeitete Takte, die am Ende offenbar nach dem Da-capo-Prinzip ein zweites Mal gespielt werden sollen. Durch diese Wiederholung kommt das Stück in a-Moll auf eine Spieldauer von knapp anderthalb Minuten. Es ist tatsächlich ein langsamer Walzer im Dreivierteltakt.

YouTube video player

Da die Autorenangabe «Chopin» auf dem Manuskript von fremder Hand hinzugefügt wurde, hat die Morgan Library die Echtheit von Experten prüfen lassen. Die Untersuchungen des Büttenpapiers und der verwendeten Eisengallustinte belegten eine Entstehung im frühen 19. Jahrhundert, hiess es; insbesondere sprächen aber Eigenheiten der Handschrift, etwa die typische Schreibweise des Bassschlüssels, dafür, dass es sich wirklich um eine unbekannte Komposition von Chopin handelt.

Auch Charakteristika des Klaviersatzes, vor allem aber die herrlich melancholisch getönte Melodie des eigentlichen Walzerthemas unterstreichen dies – sie verweisen unverkennbar auf Chopin, der im Laufe seines kurzen Lebens etwa drei Dutzend solcher Klavierwalzer komponiert hat. Überliefert und für authentisch erklärt sind davon neunzehn, darunter der sogenannte «Minutenwalzer»; die Sammlung bildet ein Herzstück in Chopins Schaffen.

Ob das New Yorker Fundstück ein Beitrag zu dieser Werkreihe werden sollte, ist unklar. Es stammt vermutlich aus den 1830er Jahren und wäre demnach Chopins frühem Schaffen zuzurechnen. Im Vergleich zu den grossen, zumeist mehrteilig angelegten Chopin-Walzern, etwa der viel gespielten «Grande Valse brillante» op. 18 von 1833, erscheint es allerdings zu kurz. Denkbar wären daher auch andere Bestimmungen: Es könnte sich um ein sogenanntes Albumblatt handeln, eine damals gängige Form, etwa auch bei Robert Schumann. Schon Beethovens berühmte a-Moll-Bagatelle mit dem Beinamen «Für Elise» ist ein solches Albumblatt.

Erst jetzt untersucht

Bekannt ist, dass Chopin derartige Blätter an Förderer und Verehrer zu verschenken pflegte. In der Regel handelte es sich dabei um Abschriften bereits fertiggestellter Werke – namentlich im Fall der in den Pariser Salons sehr populären Walzer ist dies mehrfach bezeugt. Es konnten aber auch Skizzen sein oder fragmentarische Entwürfe zu Werken, die der notorisch selbstkritische Chopin aus Unzufriedenheit beiseitegelegt hatte.

So oder so erfreuten sich solche Originalhandschriften bereits im 19. Jahrhundert grosser Beliebtheit bei Sammlern. Auch der jetzt wiedergefundene a-Moll-Walzer soll jahrzehntelang in den Händen von Autografensammlern gewesen sein, bevor er 2019 in den Besitz der Morgan Library gelangte, dort aber erst jetzt eingehend untersucht wurde.

Exit mobile version