Donnerstag, Januar 30

Die Oper ist von gestern? Von wegen! Unter Schweizer Federführung wird in Hannover das Attentat auf die Olympischen Spiele in München neu beleuchtet. In Hamburg entlarvt man das Phrasenhafte an Putin-Reden. Zwei Wagnisse, zwei Meilensteine.

Gerade die Oper, dieses Kraftwerk der Gefühle, das so gern geschmäht wird als elitäres Pläsier der Verrückten, Reichen und Mächtigen, war stets ein Politikum. Von Monteverdi über Verdi und Wagner bis in die Gegenwart. Aber gleich zwei nagelneue zeitgenössische Opern, die sich um Brennpunkte der Gegenwart kümmern, an einem Tag? Das gab es noch nie!

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Michael Wertmüller brachte am Wochenende, pünktlich zum Tag des Holocaust-Gedenkens, sein jüngstes Werk «Echo 72» heraus. Das Stück ist ein Auftragswerk der Staatsoper Hannover und bereits die sechste Oper des erfolgreichen Schweizer Komponisten, Grenzgängers und Jazzmusikers. Sie verlangt eine grosse Besetzung: siebzehn Solisten, Chor und Orchester sowie das Jazztrio Steamboat Switzerland. Auch das Thema ist gross: Es geht um den Terroranschlag der palästinensischen Gruppe «Schwarzer September» während der Olympiade in München, anno 1972.

Zur Erinnerung an das Massaker auf dem Flugplatz von Fürstenfeldbruck gesellt sich die an das gleichzeitige Versagen von Polizei, Medien und Politik. Bücher, auch Filme dazu gibt es genug; der von Steven Spielberg war nur der erste. Der jüngste, «September 5», von dem Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum, ist soeben in die Kinos gekommen und wurde bereits mehrfach für den Oscar nominiert. Nun also: die Oper zum Film. Wertmüller arbeitet mit wechselnden Rhythmen, raffinierter Klangschichtung und einer planvollen Struktur, die einen Sog erzeugt: Ein Crescendo baut sich auf, über fast zwei Stunden. Das hat, wie das kunstvoll gestelzte Libretto von Roland Schimmelpfennig, durchaus pathetische Züge.

Zur Kenntlichkeit demontiert

Zu gleicher Stunde fand in Hamburg die Uraufführung eines neuen Einakters von Gordon Kampe statt. Auch dies ein Auftragswerk der ansässigen Staatsoper, freilich «low-budget», bestimmt für die legendäre Studiobühne «opera stabile», in der 1979 die Uraufführung von Wolfgang Rihms «Jakob Lenz» stattgefunden hat. Der Intendant, Georges Delnon, führt selbst Regie. Kampes neunzehnte Oper heisst «Die Kreide im Mund des Wolfs», sie hat ein lehrstückhaftes Format, ist transparent und rhetorisch scharf geschneidert. Nur ein Sänger wird gebraucht – aber einer mit guten Nerven. Das Libretto besteht nämlich aus Originalreden von Wladimir Putin.

Sie werden bis zur Kenntlichkeit demontiert, das probate Mittel der Darstellung ist in diesem Fall die musikalische Ironie. Der Bariton Georg Nigl erklärte im Anschluss an die Generalprobe: Dieses Wolfsstück sei für ihn, sängerisch, «ein Ritt». Ein Höllenritt? «Genau! Und ich habe doch immer gesagt: Ich kann und will nicht Putin spielen.» Nigl spielt also nicht Putin. Er spielt stattdessen Putins Hausmeister.

Der schlurft müde herein, um den Konferenztisch im Kreml abzuräumen und blitzblank zu putzen. Dieser imposante, sechs Meter lange Tisch aus Marmor, an dem auch grosse Menschen wie Zwerge wirken, ist in Originalgrösse nachgebaut worden. Der Hausmeister Nigl findet ein paar liegen gebliebene Papiere. Als die Musik einsetzt, liest er daraus vor, bald singt er auch. Und so kriecht Putin endlich doch in seine Haut.

Im Wesentlichen handelt es sich um die Rede, die er im September 2001 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat, kurz nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Er empfiehlt sich darin als künftiger Partner für wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber auch als ausgewiesener Experte in der Terrorbekämpfung. Die Worte sind Hohlformeln, sie verheddern sich in Loops, zerlegen sich in Silben, Vokale, Konsonanten. Virtuos taucht Nigls Stimme ein ins Innerste der Sprache und deckt auf, was in Wahrheit gemeint ist.

Er stottert sich durch den Begriff «Kultur», erstickt am ersten Buchstaben von «Zivilisation», schraubt sich beim Wort «Frieden» erlkönighaft in Koloraturhöhen. Die Interaktion mit den Musikern, souverän koordiniert von Tim Anderson, entwickelt sich geradezu haptisch, der rasende Hausmeister ist bald nicht mehr zum Totlachen, sondern zum Fürchten. Das erinnert an die Nonsens-Rede des grossen Diktators von Charlie Chaplin, der ja sicher auch den Hitler-Hynkel lieber nicht gespielt hätte.

Chor der Voyeure

In Hannover entfesselt die Regisseurin Lydia Steier in kurzen Sequenzen und auf wechselnden Bildebenen, im Video und auf einer nonstop rotierenden Drehbühne, die kurz vor Schluss überfordert den Dienst verweigert, eine beispiellose Materialschlacht. Steier hat eine doppelte Brechung erfunden für die Suada des Librettos, das den Psychodruck des Leistungssports mit den Mechanismen des Terrors und den Pannen der Terrorbekämpfung in Engführung bringt.

Im nachgebauten Lichtsaal des Deutschen Museums in München sind die israelischen Sportler der Olympiade individuell in Glaskästen ausgestellt: der Gewichtheber, die Fechterinnen, der Sportschütze. Sie sind bereits tot, wissen es aber erst, als sie blutend zusammenbrechen. Wände beginnen zu wandern. Museumsbesucher verwandeln sich in den abscheulich medienmachtgeilen Chor der Voyeure. Herausragend gestaltet die Sopranistin Idunnu Münch die Partie der «Klage», die erst als Museumswärterin, dann als Friedensengel, schliesslich als Revuegirl die Chronik der Ereignisse erzählt.

Auf dem Umschlagpunkt der «heiteren Spiele» wird sie abgelöst von Corinna Harfouch, die im Video, mit dem kalten Charme einer Tagesschau-Sprecherin, Namen und Biografien der Opfer verliest. Die gehen unter im berstenden Fortissimo-Lärm, den der Schweizer Dirigent Titus Engel im Graben entfesselt: ein brüllend tönender Gedenkstein, sich verdichtend zur Katastrophe. Das C-Dur am Ende wirkt seltsam ernüchternd. Gemeint ist, anders als noch bei Haydn oder Beethoven, weder Katharsis noch Hoffnung.

Gerade deshalb war dies ein aufwühlender, grosser Theaterabend. So wie die Generalprobe der Wolf-Parabel ein spektakulärer Vormittag wurde, der Widerhaken hinterliess, in Herz und Hirn. Diese Produktionen dürfen nun nicht nach wenigen Aufführungen wieder verschwinden, wie das mit zeitgenössischer Musik leicht passieren kann. Andere Häuser oder Festivals sollten sie übernehmen. Denn hier ist die Oper wirklich ein Politikum, aber eines, das uns alle angeht.

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