Freitag, Januar 17

«L’Histoire de Souleymane» erzählt von einem Migranten, der sich als Fahrradkurier in Paris durchschlägt. Daraus wird kein Betroffenheitskino, sondern eine Übung in Ambiguität.

Der überfüllte Sonderbus zum Obdachlosenheim fährt ohne Souleymane ab. Er klopft gegen die Scheiben, aber der Fahrer sagt, dass er nicht öffnen dürfe. Verzweiflung macht sich breit, eine Nacht auf der Strasse im lausekalten Winter droht, und das einen Tag vor seiner entscheidenden Anhörung für den Asylantrag.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Souleymane stammt aus Guinea und arbeitet als Fahrradkurier in Paris, obwohl er laut Gesetz noch gar nicht in Frankreich arbeiten darf. Um zu überleben, braucht er jedoch Geld. In dieser Zwickmühle gefangen, wird er begleitet von der Kamera, auf seinem Rad, ins Obdachlosenheim, in den Räumlichkeiten dubioser Organisationen, die ihm Hilfe versprechen, auf einer atemlosen Suche nach Geld und ein wenig Würde.

Spielfilme zu solch aufgeladenen Themen wie der Migration laufen oft Gefahr, an ihrem zu klar ausformulierten politischen Engagement oder einer zu diskurslastigen Dramaturgie zu scheitern. In «L’Histoire de Souleymane» bleibt Boris Lojkine ganz nah an seinem Protagonisten, der Film konfrontiert die Zuschauer schlicht mit seiner Lebensrealität. Das ist eine gute Entscheidung, denn so bekommt man nicht das Gefühl, der Film schreibe einem seine Weltsicht vor.

Was braucht es, um Asyl zu erhalten?

In einer unaufgeregt gefilmten und doch mitreissenden Reise durch ein Paris der Peripherie lässt der Regisseur zwei der entscheidenden Faktoren im Migrationsdiskurs aufeinandertreffen: ökonomische Tatsachen und Mitgefühl. Der Film löst die damit verbundenen Fragen nicht auf, zeigt aber das menschliche Drama, das an beiden Aspekten hängt.

Muss ein Mensch politisch verfolgt werden, um Asyl beantragen zu können? Oder reicht ein persönlicheres, menschliches Schicksal? Für längere Zeit filmt Lojkine das Gesicht einer Beamtin, die stellvertretend für alle steht, die darüber entscheiden. Gerade, dass man an ihrer Mimik nicht ablesen kann, ob sie Verständnis für Souleymane hat oder nicht, konfrontiert einen selbst mit der Suche nach notwendigen Antworten.

Eine fragwürdige Organisation verkauft Souleymane Dokumente und auswendig zu lernende Narrationen, mit denen die Migranten angeblich bei der Befragung im Asylamt durchkommen. Andere versprechen Geld und Hilfe, verschwinden dann aber. Vor dem Gesetz sind alle gleich, doch, so argumentiert der Film, es wäre gut, wenn nicht alle das Gleiche erzählen würden. Letztlich handelt der Film von einem jungen Mann, der lernen muss, seine eigene Geschichte zu erzählen. Und darüber hinaus wird gefragt, ob eine Gesellschaft die individuelle Geschichte eines Menschen losgelöst von grösseren politischen Erzählungen betrachten kann.

Schonungsloser Realismus

Es ist eine Welt, in der alle für sich selbst kämpfen. Bisweilen erinnert die an Souleymane klebende Kamera an das Kino der Gebrüder Dardenne, ein schonungsloser Realismus mit humanistischem Grundton. Dazu passt auch, dass Abou Sangare nicht nur ein Laiendarsteller ist, sondern zur Zeit des Drehs selbst undokumentiert in Frankreich lebte. Kürzlich erst hat er eine einjährige Aufenthaltserlaubnis bekommen. Der Film erzählt auch seine Geschichte.

Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen in vergleichbaren Milieus zeigt Lojkine, wie Ausbeutungs- und Unterdrückungssysteme auch innerhalb der afrikanischen Diaspora greifen. Im erbarmungslosen Kampf um ein Leben in Frankreich ist die gegenseitige Hilfe lahmgelegt. Eigentlich laufen alle ständig voneinander weg in diesem Film, am meisten aber die Hauptfigur vor sich selbst.

Lojkine überstrapaziert das Drama nicht, er zeigt es einfach in kleinen Augenblicken am Rand des Bildes. Dasselbe gilt auch für die flüchtigen Momente der Zärtlichkeit, etwa als die Bedienung eines Restaurants, bei dem Souleymane für eine Lieferung Essen holt, ihm ein Bonbon schenkt. Statt Betroffenheitskino zu produzieren, übt sich der Film in Ambiguität. Zeitweise spürt man, dass sich hier jemand sehr genau überlegt hat, wie er das Thema angehen könnte. Dann wird etwas zu sehr mit Erwartungen gespielt. Insgesamt aber betrachtet die Kamera Souleymane als Menschen, nicht als Beispiel für einen Diskurs, und das berührt.

L'Histoire de Souleymane - Trailer OV/d

Exit mobile version