Hat das Stil?
Auf Zugreisen werde ich häufig von Fremden gebeten, auf ihr Gepäck aufzupassen. Ist es den Leuten nicht zuzumuten, das Handy mit aufs Klo zu nehmen? Und was, wenn wirklich etwas passiert: Bin ich dann daran schuld? Ich möchte gerne Nein sagen, habe mich aber bisher nicht getraut. – Marianne S., Frauenfeld
Liebe Marianne, eine Freundin von mir hat ein derart verbindliches Auftreten, dass sie ständig von Fremden darum gebeten wird, deren Gepäck kurz in Obhut zu nehmen – kaum betritt sie einen Bahnhof, zack, landet auch schon ein fremder Koffer neben ihr. Offenbar haben Sie eine ähnliche Ausstrahlung, und auch wenn es Sie nervt, ist es ein Geschenk: Die Menschen geben Ihnen einen Vertrauensvorschuss, weil Sie kein Atom boshafter Ausstrahlung in sich tragen.
Ausserdem kann ich verstehen, warum man möglichst ohne Handy oder Handtasche in öffentlichen Klos unterwegs sein möchte; zudem möchten wir alle in einer Gesellschaft leben, in der man Fremde um Mikro-Gefallen bitten kann, Sie sollen ja nicht die prätentiöse Edelkatze von nebenan zwei Wochen pflegen.
Aber gut, wenn Sie diese Anfragen abmoderieren wollen, dann müssen Sie das üben. Anfänger sagen etwas wie: «Nein, tut mir leid, bin auch kurz weg», dann wenden sie sich ihrem Handy zu. Fortgeschrittene setzen klare Grenzen: «Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich möchte die Verantwortung ungern übernehmen.» Es ist Ihr gutes Recht, Gefälligkeiten abzulehnen, mit denen Sie sich nicht wohlfühlen.
Ihre Fragen senden Sie bitte an: hatdasstil@nzz.ch