Freitag, November 29

Serviceangestellte zahlen auf ihr Trinkgeld keine Steuern. Gastronomen wie Gewerkschafter wollen, dass das so bleibt. Doch es gibt ein Problem: das Gesetz.

Für die meisten Menschen ist Trinkgeld eine beiläufige Sache. Ob im Café oder im Restaurant, ein paar Franken gehen fast immer über den Tisch.

Doch ausgerechnet diese harmlose Geste eskaliert nun in einen Streit. Weil Gäste immer häufiger digital bezahlen, erscheinen die Trinkgelder zunehmend in den Buchhaltungen von Betrieben. Gehören sie damit zum Lohn der Angestellten? Müssen sie versteuert werden? Und wer ist dafür zuständig? Besonders im Gastgewerbe gehen die Meinungen auseinander.

Ein Gastronom sagt: «Trinkgeld ist ein Geschenk und kein Lohn, es geht den Betrieb nichts an.»

Ein anderer widerspricht: «Wenn jemand 3000 Franken Trinkgeld im Monat verdient, muss das doch irgendwo ausgewiesen werden.»

Versuche, innerhalb der Branche eine Lösung zu finden, sind gescheitert. Nun haben Politiker das Thema aufgenommen und drängen darauf, die Gesetze anzupassen. Schon bald muss sich also auch der Bundesrat mit der Frage auseinandersetzen: Ist Trinkgeld tatsächlich Schwarzgeld?

Bargeld verschwindet

In der Schweiz werden jedes Jahr schätzungsweise eine Milliarde Franken an Trinkgeld verteilt. Solange es bar gezahlt wird, bleibt es unsichtbar: Es wandert am Ende der Schicht direkt in die Taschen der Angestellten und erscheint weder auf einer Abrechnung noch auf einem Beleg. Und weil niemand kontrolliert, wie hoch die Beträge genau sind, werden darauf weder Steuern noch Sozialabgaben bezahlt. Das Trinkgeld ist in diesen Fällen Schwarzgeld.

Lange Zeit hat das niemanden gestört. Die Behörden stellten keine Fragen, die Arbeitgeber schauten weg, und die Angestellten schätzten das zusätzliche Geld am Monatsende. Von der stillschweigenden Übereinkunft profitierten kurzfristig alle. Wohl darum blieb sie über Jahrzehnte bestehen.

Doch bald könnte es damit vorbei sein. Denn Bargeld wird seltener. Durch die Digitalisierung wird das Trinkgeld zur offiziellen Transaktion – und für viele Gastronomen zur Zwangsfrage: Was tun mit dieser Position in den Büchern?

Gastrosuisse: «Es ist viel Angst da»

Beat Imhof ist seit diesem Sommer der Präsident von Gastrosuisse, dem grössten gastgewerblichen Arbeitgeberverband der Schweiz. Er sagt: «Auf das Thema Trinkgeld werde ich am häufigsten angesprochen. Es ist viel Angst da.» Die meisten Betriebe fürchteten sich davor, die Trinkgelder als Lohn abrechnen zu müssen. Zu hoch wären die Kosten. «So wie es heute läuft, läuft es gut», sagt Imhof. «Wir brauchen keine neue Regelung.»

Dabei gibt es bereits heute ein Gesetz, das sagt: Trinkgelder gehören auf den Lohnausweis, sobald sie einen «wesentlichen Teil des Lohns» darstellen. Was genau «wesentlich» bedeutet, wird darin zwar nicht konkretisiert, doch Behörden und Rechtsexperten setzen die Grenze bei 10 Prozent des Einkommens. Verdient also jemand 4000 Franken, müssten auf Trinkgelder ab 400 Franken Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden.

Betriebe, die das nicht tun, halten ihren Angestellten einen Teil des Lohns vor. So zumindest sieht das Thomas Geiser, emeritierter Professor für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen. Er sagt: «Beim Trinkgeld geht es um die soziale Sicherheit der Mitarbeiter.» Denn auch wenn die Angestellten wegen der Abzüge kurzfristig weniger Lohn haben, profitieren sie langfristig von höheren Sozialleistungen. Geiser sagt: «Die Gastronomie hält ihre eigenen Leute klein, wenn sie nicht anfängt, die Trinkgelder zu deklarieren.»

Gewerkschaft unterstützt den Verband

Auch Beat Imhof von Gastrosuisse gibt zu, dass eine Deklaration den Angestellten im Alter höhere Renten brächte. Doch das Trinkgeld sei eine Sache zwischen Gast und Mitarbeiter. Imhof bevorzugt andere Lösungen: «Auch die Mitarbeiter tragen Verantwortung für ihre finanzielle Vorsorge. Sie könnten die Trinkgelder selber anlegen, zum Beispiel in einer dritten Säule.»

Die Arbeitgeber hingegen könnten die Belastung der zusätzlichen Sozialleistungen nicht stemmen, sagt Imhof. Die Margen seien bereits heute sehr klein. Die Kosten müssten die Gastronomen in Form von höheren Preisen an die Konsumenten weitergeben.

Unterstützt wird Gastrosuisse von der Unia. Die Gewerkschaft warnt für gewöhnlich gerne und laut vor Schwarzarbeit. In diesem Fall möchte aber auch sie nichts an der gegenwärtigen Praxis verändern. «Eine Deklaration der Trinkgelder würde die Bürokratie massiv erhöhen und den Mitarbeitenden letztlich schaden», heisst es von der Gewerkschaft. Der Vorteil höherer Renten stehe «in keinem Verhältnis zu dem Einkommensverlust, den die Angestellten dafür in Kauf nehmen müssten».

Ein Trinkgeld, fast so hoch wie der Lohn

Manuel Wiesner sieht die Sache anders. Er führt mit seinem Bruder die Familie-Wiesner-Gastronomie (FWG), einen der zwanzig grössten Gastronomiebetriebe der Schweiz. Seit Anfang dieses Jahres führt die FWG sämtliche Trinkgelder ihrer Angestellten in deren Lohnabrechnung auf.

Der Schritt sei nötig geworden, sagt Wiesner, weil seine Restaurants seit dem letztem Jahr nur noch elektronische Zahlungen annähmen. Er sieht sich auch in der Pflicht: «Unsere Serviceangestellten verdienen im Schnitt 1500 Franken Trinkgeld pro Monat, das ist mehr als ein Drittel ihres Lohns.» Zwar gebe es Mitarbeiter, die weniger erhielten, aber auch solche, die bis zu 3500 Franken dazuverdienten.

Zum Vergleich: Für einen Mitarbeiter ohne Berufslehre und Erfahrung liegt der Mindestlohn in der Gastronomie bei 3666 Franken. Wiesner sagt: «Das zeigt doch, dass die Trinkgelder bei fast allen Servicemitarbeitern einen wesentlichen Teil des Einkommens ausmachen.»

Wiesner widerspricht zudem der Behauptung, dass auf die Gastronomen untragbare Kosten zukämen. «Unser Mehraufwand liegt bei 0,5 Prozent. In Anbetracht der Vorteile ist das marginal.» Denn der höhere Lohn verbessere die Kreditwürdigkeit der Mitarbeiter und sie fänden dadurch einfacher eine Wohnung, sagt Wiesner. Im Alter profitierten sie zudem von einer besseren Rente und seien bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Unfall besser abgesichert.

Die FWG hat sämtliche Abklärungen mit den Behörden dokumentiert. Wiesner sagt, er wolle seinen Gastro-Kollegen nicht diktieren, wie sie vorgehen sollten. «Wir machen nur das, was das Gesetz heute schon vorschreibt.»

Motion blockiert die Frage

Seit wenigen Wochen mischt sich in die Debatte um das Trinkgeld nun auch die Politik ein. Der Genfer Mitte-Nationalrat Vincent Maitre hat eine Motion eingereicht, in der er fordert, dass Trinkgelder steuerfrei bleiben sollen. Konkret verlangt Maitre vom Bundesrat, das AHV-Gesetz und das Gesetz über die direkte Bundessteuer so anzupassen, dass auf Trinkgelder keine Abgaben anfallen.

Maitre sagt: «Die Gastronomie kämpft bereits mit dem Fachkräftemangel. Eine Besteuerung der Trinkgelder würde den Serviceberuf noch unattraktiver machen.» Ginge es nach ihm, wären Trinkgelder als Spende zu betrachten.

Parlamentarier aus linken wie aus rechten Parteien unterstützen die Motion. Auch Gastrosuisse kommt der Vorstoss gelegen – offiziell aber zeigt sich der Verband unbeteiligt. Der Präsident Beat Imhof sagt: «Wir waren selbst überrascht, als wir davon erfahren haben.»

Wegen der Motion sind vorerst alle weiteren Abklärungen blockiert. Eigentlich wollte das Bundesamt für Sozialversicherungen diesen Herbst entscheiden, ob es beim Trinkgeld strengere Regeln braucht. Doch nun heisst es, dass man zuerst die Antwort des Bundesrats abwarten müsse. «Wann mit einer Stellungnahme zu rechnen ist, können wir im Moment nicht abschätzen.»

Bis dahin bleibt die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Trinkgeld ungeklärt. Die Gäste geben es weiter, immer öfter bargeldlos. Und die Gastronomen warten auf eine Ansage, in der Hoffnung, dass sich durch sie nichts verändert.

Der Restaurantbetreiber Manuel Wiesner sieht in alldem eine verpasste Chance, vom Ruf der Niedriglohnbranche wegzukommen. Er sagt: «Die Gastronomie könnte als Arbeitgeberin attraktiver werden, wenn die tatsächlich erzielten Einkünfte auf dem Lohnausweis stehen.»

Wiesner sagt, dass jemand im Service mit Trinkgeld problemlos auf einen Monatslohn von 5000 Franken oder mehr komme. «Das ist doch etwas Positives.»

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