Ein Kanadier, der mit seiner Familie in Genf lebt, soll eine chinesische Geheimagentin mit Informationen zu Nordkorea versorgt haben. Er sitzt derzeit in Untersuchungshaft.
Es kommt sehr selten vor, dass in der Schweiz ein Spion verhaftet wird. Doch dies war offenbar im Frühling der Fall: Beim festgenommenen Mann soll es sich um einen knapp 60-jährigen Kanadier handeln, der mit seiner Familie in Genf wohnt. Früher arbeitete er für die Uno, er ist in Diplomatenkreisen bekannt. Zuletzt sei er als selbständiger Umweltberater tätig gewesen, wie Recherchen der TA-Media-Zeitungen, der «Spiegel» und das auf Nordkorea spezialisierte Onlineportal «NK News» am Donnerstag zeigen.
Ursprünglich hatte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) eine chinesische Diplomatin beschattet, die sich als Agentin des militärischen Nachrichtendienstes Chinas herausgestellt hatte. Doch dann habe der NDB in der zweiten Jahreshälfte 2021 mehrmals beobachtet, wie diese Frau einen Kanadier in Genfer Restaurants traf und sich diskret mit ihm austauschte – offenbar auch gegen Geld. Auch soll der NDB mitgehört haben, dass es in den Gesprächen unter anderem um nordkoreanische Diplomaten ging, die in der Schweiz stationiert waren.
Der Kanadier gilt gemäss «Tages-Anzeiger» als gut informierter Experte für Nordkorea. Er hat das Land vor der Corona-Pandemie besucht und stand in freundschaftlichem Kontakt zu Diplomaten aus Nordkorea in Genf, die er auch zu sich nach Hause einlud. Selbst der ehemalige Botschafter soll zum Bekanntenkreis des Kanadiers gehört haben. Nordkorea unterhält sowohl eine Botschaft in Bern, als auch eine ständige Mission bei der UNO in Genf.
Diverse nordkoreanische Beziehungen zur Schweiz
Die Vermutung, dass China nordkoreanische Diplomaten in der Schweiz ausspionieren liess, ist plausibel. In der Vergangenheit wurden die Diplomaten verschiedentlich mit «Spezialmissionen» betreut. So ging etwa der heutige Machthaber Kim Jong-un von 1996 bis 1998 unter dem Decknamen Un-pak in Liebefeld bei Bern zur Schule, als angeblicher Sohn eines Diplomaten. Zudem soll ein früherer Botschafter in der Schweiz das Vermögen der Kim-Familie im Ausland verwaltet haben.
Darüber hinaus war Nordkorea bis vor kurzem mit einem prominenten Botschafter in der Schweiz vertreten: Han Tae Song wurde nach einigen Jahren auf einem Spitzenposten im Aussenministerium in Pjongjang zum Botschafter für die Schweiz ernannt, 2022 präsidierte er die Abrüstungskonferenz der UNO in Genf und im Mai 2023 wurde er in den Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation gewählt – bis er Anfang dieses Jahres plötzlich abreiste.
Gut möglich also, dass China auf diesem Weg versuchen wollte, mehr über Nordkorea herauszufinden. Denn auch wenn die Nachbarländer 1961 einen gegenseitigen Verteidigungspakt unterschrieben haben, so sind ihre Beziehungen aufgrund von Nordkoreas Atomwaffenprogramm komplex. Chinas oberste Priorität ist die Vermeidung von Instabilität in der Region. Zwar spricht sich Peking konsequent gegen die Entwicklung des nordkoreanischen Atomprogramms aus, hütet sich aber davor, zu starken Druck auf Pjongjang auszuüben, um seinen Einfluss auf das Land nicht einzuschränken und destabilisierend zu wirken.
Die Schweiz wiederum ist ein beliebter Ort für chinesische Spionage. Das zeigte der 2023 veröffentlichte Bericht des NDB. Die Bedrohung der Schweiz durch ausländische, hauptsächlich russische und chinesische Spionage sei hoch, unter anderem aufgrund ihrer Rolle als Gaststaat internationaler Organisationen. Gemäss NDB verfüge China in der Schweiz über Dutzende Nachrichtendienstangehörige, die als Botschafts- oder Konsulatsmitarbeiter getarnt seien.
Laufendes Strafverfahren
Seine Beobachtungen gab der NDB an die Bundesanwaltschaft weiter. Die chinesische Agentin, die sich 2021 mehrmals mit dem Kanadier traf, ist seit längerem nicht mehr in der Schweiz. Die Bundesanwaltschaft eröffnete aber im März 2023 ein Strafverfahren gegen den Kanadier wegen Spionageverdachts im Zusammenhang mit allen drei diesbezüglichen Strafnormen: politischer, wirtschaftlicher und militärischer Nachrichtendienst für einen fremden Staat oder eine ausländische Organisation. Derzeit befindet sich der Kanadier in Untersuchungshaft. Es gilt die Unschuldsvermutung. Die Bundesanwaltschaft gibt zu laufenden Strafverfahren oder Vorabklärungen im Bereich der Spionage keine Auskunft.