Sonntag, November 24

Sepiatinte verleiht Speisen nicht nur eine tiefschwarze Farbe, sondern auch ein kräftiges, milchig-metallisches Fischaroma.

«Das war’s», seufzte Nicolas, «mehr ist da nicht rauszuholen.» Noch einmal drückte er mit der ganzen Kraft seiner Finger auf das daumenlange, blau und silbrig glänzende Säckchen, noch einmal erschien ein schwarzes Tröpfchen am Ausgang, das er behutsam in ein kleines Schnapsgläschen fallen liess.

Auf dem Küchentisch vor ihm lagen die Tentakel und die Mantelstücke einer pfundschweren Sepia, ihr schnabelartiges Mundwerk, ihre grossen Augen, die Verdauungsdrüse, Leber, Kiemen, Rogensack, Enddarm – und alles war schwarz eingefärbt, die Hände, das Messer, Teller, Tücher, sogar Nase und Stirn meines Kommilitonen, denn im Verlauf der Operation hatte er sich die Brille zurechtschubsen müssen.

Als Archäologe war Nicolas Ausgrabungssituationen gewohnt, doch die Suche nach dem Tintensack im Bauch eines Kuttelfisches war auch für ihn eine neue Erfahrung. «So muss es ausgesehen haben, wenn man im alten Rom aus Eingeweiden die Zukunft gelesen hat – wie passend zum Jahresende», murmelte er, berührt von seinen Taten. Dann griff er sich das Gläschen und hielt es gegen das Licht: «Das also ist sie, die Tinte aller Tinten, der Urstoff von Drama und Komödie, Evangelium und Gotteslästerung!»

Der dickliche Saft, höchstens zwei Teelöffel voll, war nicht sepiafarben, wie es der Name erwarten liesse, sondern tiefschwarz. Mit freudigem Stolz trug Nicolas die dunkle Beute in sein Studierzimmer hinüber. Auf seinem Empire-Sekretär hatte er bereits ein Stückchen Pergament und einen Gänsekiel bereitgelegt.

Vorsichtig tauchte er die Federspitze in die Tinte und kritzelte flugs einen Satz auf das Papier, wiegte die Zeilen mit seinem Löschroller trocken, faltete den Zettel klein, packte ihn in eine leere Bonbondose und streckte sie mir hin: «Da, mein Geschenk zu Silvester», lachte er, «aber du darfst es erst in zehn Jahren öffnen. Sicher bist du dann ein berühmter Archäologe und hast den dorischen Eckkonflikt gelöst.»

Nicolas grinste, er machte sich gerne lustig über mich. «Ich bin allerdings ziemlich sicher, dass dann nichts mehr zu lesen sein wird», fügte er an, und es klang wie eine Beruhigung: «Es ist ein Experiment, nicht jede Sepia liefert gute Tinte. Du hast also nicht viel zu befürchten.»

Das «Experiment» war typisch für Nicolas’ seltsamen, manchmal verletzenden Humor. Er spielte in einer anderen Ordnung als ich und liess mich das mitunter spüren. Aber ich wollte das ‹Geschenk› auch nicht ablehnen, mein Gesicht nicht völlig verlieren, also steckte ich es widerwillig ein.

Seit jenen Tagen bin ich nie wieder jemandem begegnet, der mit der Tinte einer echten Sepia hätte schreiben wollen. Und wenn ich selbst den Stoff aus den Kutteln eines solchen Kopffüssers hole, dann nur, um damit zu kochen. Einige meiner liebsten Rezepte verlangen nach dem schwarzen, auf eine erdig-würzige, milchig-metallische Art nach Fisch duftenden Saft: Seppie in tecia con nero zum Beispiel, eine Frühjahrsherrlichkeit aus Venedig.

Allerdings sieht es nach einer Sepiagrabung bei mir ähnlich aus wie damals in der Küche von Nicolas. Die Suche nach dem Tintenbeutel führt auch beileibe nicht immer zum Ziel, mal findet man ihn nicht, mal scheint gar keiner da. Und manchmal entdeckt man ihn zwar, hat ihn aber beim Sezieren verletzt und würzt folglich nur seine Finger mit dem kostbaren Schwarz.

Für Menschen, die nicht mit den Füssen im Brandungsschaum gross geworden sind, ist die Schatzsuche in der Sepia ein Abenteuer, dunkel, feucht und glitschig. Ich tröste mich jeweils damit, dass die Tintenfischgrabung ja die einzige Form von Archäologie ist, die ich heute noch betreibe. Man bekommt Sepiatinte unterdessen allerdings auch als Konserve, fein säuberlich in kleinen Plastiktütchen abgepackt, die man jahrelang ungekühlt aufbewahren kann.

Kürzlich habe ich versucht, Nicolas’ heutige Adresse herauszufinden. Nach mehr als dreissig Jahren, in denen wir kaum Kontakt hatten, verspürte ich plötzlich das Bedürfnis, ihm zu schreiben, ihn zu treffen – schliesslich verdanke ich ihm so manch kulinarische Premiere. Im ersten Anlauf gelang es mir nicht, ihm auf die Spur zu kommen. Doch da fiel mir die kleine Dose wieder ein. Ich hatte sie in eine Schachtel mit der Aufschrift «Ritualia» gepackt – mein Aufbewahrungsort für alles, was ich weder brauchen noch wegwerfen kann.

Ich hatte die Büchse tatsächlich noch nie geöffnet. Vielleicht aus Angst vor einem verletzenden Scherz aus der Vergangenheit. Entsprechend war ich etwas nervös, als ich das Zettelchen auseinanderfaltete. Die Schrift war fast gänzlich verblichen.

Ich holte also meine stärkste Lesebrille und hielt das Papier direkt unter meine Schreibtischlampe. Ich erkannte die Handschrift von Nicolas sofort wieder, diese kleinen, mit selbstverständlicher Schönheit hingesetzten Buchstaben. Und ich konnte gerade noch entziffern, was da stand: «Ein Text ist wie eine Tintenwolke. Man weiss nie: Ist der Urheber noch drin, oder hat er sich längst aus dem Staub gemacht? Und ehe man sich versieht, ist auch die Wolke weg – als habe man sie in sich selbst aufgesogen.»

Ich musste lachen. Das war so typisch für Nicolas. Ich wusste genau, was er mir (oder sich selbst) da hatte beweisen wollen. Doch für einmal hatte er sich getäuscht, für einmal hatte ihm die Welt nicht recht gegeben. Oder etwa doch?

Schweinskopfbacken, tintenschwarz gekocht

Die Tinte verspricht schon optisch viel Tiefe in diesem Gericht, was dann der satte Geschmack der Schweinskopfbacken auch einlösen kann.

Rezept

  • 300 ml Rotwein
  • 100 ml Wasser
  • 8 g Sepiatinte
  • 1 TL Salz
  • 10 Pfefferkörner
  • 5 Pimentkörner
  • 1 Zimtstengel
  • 2 Zwiebeln, ­geviertelt
  • 2 Knoblauchzehen, zerquetscht
  • 800 g Schweinskopfbacken
  • etwas Bratbutter
  • 1 EL Mehl, braun geröstet
  • 30 g Butter

Wasser, Wein und Tinte aufkochen. Salz, Gewürze, Zwiebel und Knoblauch dazugeben. Den Sud während 5 Minuten kochen.

Die Kopfbacken in einem Bräter goldbraun anbraten, den Sud dazugiessen. Aufkochen, den Deckel aufsetzen und bei 140 °C im Backofen während rund 2 Stunden schmoren. Garpunkt mit einer Gabel prüfen.

Die Sauce etwas einkochen, dazu das Fleisch aus der Sauce heben. Für etwas mehr Bindung 1 EL braun geröstetes Mehl beigeben und unter Rühren aufkochen. Die Sauce abschmecken. Das Fleisch in die heisse Sauce legen. Vor dem Servieren ein Stück Butter in der heissen Sauce schmelzen lassen. Sauce nicht mehr kochen.

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