Mittwoch, November 27

Der Flugzeugbauer Boeing gibt zu, im Vorfeld der tödlichen Abstürze die Luftfahrtbehörden getäuscht zu haben. Der Konzern zahlt eine Strafe und steht für drei Jahre unter Beobachtung. Die Familien der Opfer kritisieren den Deal.

Der amerikanische Flugzeugbauer Boeing bekennt sich schuldig, im Vorfeld der tödlichen Abstürze zweier Flugzeuge des Typs 737 Max 9 die Luftfahrtbehörden in die Irre geführt zu haben. Mit dem Schuldbekenntnis verhindert das Unternehmen einen Prozess in der Sache.

Das Schuldbekenntnis, das noch von einem Bundesgericht bestätigt werden muss, stempelt Boeing als verurteilten Verbrecher ab. Der Konzern muss eine Strafe von 243,6 Millionen Dollar zahlen, wie aus einem vom amerikanischen Justizministerium an einem Gericht in Texas am Sonntag eingereichten Dokument hervorgeht. Boeing verpflichtet sich zudem, in den nächsten drei Jahren 455 Millionen Dollar für Compliance- und Sicherheitsprogramme auszugeben. Weiter muss für drei Jahre ein unabhängiger Prüfer installiert werden, der diese Programme überwacht.

Zwei Abstürze innerhalb von sechs Monaten

Hintergrund des nun getroffenen Vergleichs sind zwei Flugzeugabstürze des Typs 737 Max 9 in Indonesien und Äthiopien vor mehreren Jahren. Im Oktober 2018 stürzte ein Flugzeug der indonesischen Lion Air ab, im März 2019 eine Maschine der Ethiopian Airlines. Bei den Abstürzen kamen 346 Personen ums Leben.

Ursache der Flugzeugabstürze war laut Ermittlungen unter anderem eine Software, die Piloten im Flug unterstützen sollte, aber stärker als erwartet in die Steuerung eingriff. Boeing geriet in die Kritik, weil der Flugzeugbauer bei der Zertifizierung des Typs durch die amerikanische Luftfahrtbehörde spezielle Schulungen für die Software für unnötig erklärt hatte. Nach den beiden Abstürzen blieben Flugzeuge des Typs 737 Max 9 weltweit für mehrere Monate am Boden.

Das Schuldbekenntnis stellt Boeing vor zusätzliche Herausforderungen im Geschäftsalltag. Verurteilte Unternehmen können in den Vereinigten Staaten als Auftragnehmer des Staates, etwa für das Militär oder die Nasa, suspendiert oder ausgeschlossen werden. Es wird jedoch erwartet, dass Boeing sich um Ausnahmen von dieser Regel bemühen wird. Laut dem «Wall Street Journal» laufen deswegen bereits Gespräche zwischen Boeing und dem amerikanischen Verteidigungsministerium.

Im vergangenen Jahr erhielt Boeing Aufträge des Verteidigungsministeriums im Wert von 22,8 Milliarden Dollar, wie aus Behördendaten hervorgeht. Der Verteidigungsbereich ist für Boeing wichtig, da der Flugzeugbauer wegen Qualitätsmängeln bei seinen kommerziellen Flugzeugen seit Anfang Jahr unter Druck steht. Insgesamt machten Regierungsaufträge im letzten Jahr 37 Prozent des Gesamtumsatzes aus.

Hinterbliebene bezeichnen Deal als «Klaps auf die Hand»

Im Rahmen des Vergleichs erklärte sich der Vorstand von Boeing auch bereit, sich mit den Familien der 346 Opfer der Flugzeugabstürze zu treffen. Die Hinterbliebenen jedoch sind unzufrieden mit dem zwischen Boeing und dem Justizministerium getroffenen Vergleich. Ein involvierter Anwalt bezeichnete ihn als «Klaps auf die Hand». Die Hinterbliebenen hatten eine Strafe von 25 Milliarden Dollar gefordert und verlangt, Boeing ohne Zugeständnisse vor Gericht zu ziehen. Zudem wollen sie weitere Klagen gegen Führungskräfte erheben, die sie für die Abstürze verantwortlich machen.

Die Anwälte der Hinterbliebenen haben angekündigt, dass sie gegen den nun zustande gekommenen Vergleich vorgehen wollen. «Die Familien beabsichtigen, zu argumentieren, dass der Deal mit Boeing unfaire Zugeständnisse an Boeing macht, die andere Angeklagte niemals erhalten würden», heisst es in einem separaten Gerichtsdokument. Boeing werde im Vergleich nicht direkt für den Tod von 346 Personen zur Verantwortung gezogen.

Der Vergleich schützt Führungskräfte nicht vor Strafverfolgung. Verurteilungen sind jedoch aufgrund von Verjährungsfristen unwahrscheinlich. Es dürfte zudem schwierig sein, andere Straftatbestände wie etwa Totschlag vor Gericht zweifelsfrei zu beweisen. Ein ehemaliger Cheftechniker von Boeing wurde 2022 von einem Geschworenengericht von solchen Vorwürfen freigesprochen.

Die Strafe über 243,6 Millionen Dollar ist die zweite, die Boeing im Zusammenhang mit den tödlichen Abstürzen zahlen muss. Die erste Strafe zahlte das Unternehmen im Jahr 2021 im Rahmen eines 2,5 Milliarden Dollar schweren Vergleichs. Dieser beinhaltete einen Aufschub der Strafverfolgung, wenn Boeing eine dreijährige Probezeit übersteht. 500 Millionen Dollar wurden damals als Entschädigung an die Familien der Opfer ausbezahlt. Diese kritisierten den Vergleich schon damals als zu lax.

Boeing verstiess gegen frühere Bestimmungen

Der 2021 vereinbarte Deal wurde jedoch im Mai 2024 gekippt. Das Justizministerium stellte fest, dass Boeing gegen eine zentrale Vorgabe verstossen hatte. Der Flugzeugbauer hatte es versäumt, ein effektives Compliance-Programm einzurichten.

Der Verstoss kam wegen eines anderen Vorfalls mit einer Boeing-Maschine im Januar 2024 ans Licht. Eine so gut wie neue 737 Max 9 von Alaska Airlines verlor während eines Fluges ein Rumpfteil. Der Vorfall brachte eine Reihe von Qualitätsproblemen bei Boeing und einem Zulieferer, Spirit Aerosystems, zum Vorschein. Spirit wurde 2005 von Boeing ausgegliedert. Letzte Woche gab Boeing bekannt, den Zulieferer wieder zurückzukaufen.

Das Justizministerium musste bis zum 7. Juli entscheiden, ob es wegen dieses Verstosses Ermittlungen gegen Boeing aufnimmt. Es stellte den Flugzeugbauer vor die Wahl, sich schuldig zu bekennen oder einen Prozess zu riskieren. Boeing entschied sich für Ersteres. Bis zum 19. Juli werden die beiden Parteien den Vergleich finalisieren.

Dieser bezieht sich lediglich auf das Verhalten von Boeing vor den tödlichen Abstürzen. Weitere Klagen oder Ermittlungen, etwa wegen des verlorenen Rumpfteils, sind weiterhin möglich. Auch zivilrechtliche Klagen können noch erhoben werden. Das Schuldeingeständnis erspart Boeing jedoch einen Prozess, der allenfalls weitere, der Öffentlichkeit noch nicht bekannte Verfehlungen hätte aufdecken können.

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