Donnerstag, Februar 6

Sie besiegten den Islamischen Staat und beherrschen seither Nordostsyrien. Doch nun droht das kurdische Autonomieprojekt zu scheitern. Besuch in einem belagerten Land.

In Kobane scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Über dem Hauptplatz in der Kleinstadt hoch oben im Nordosten Syriens flattern riesige Wimpel der Kurdenmilizen YPG und YPJ im Wind. Deren Kämpfer und Kämpferinnen hatten 2015 hier in einer heroischen Abwehrschlacht die Mörderbanden des Islamischen Staates (IS) zurückgeschlagen. Zehn Jahre später feiern die Einwohner den Jahrestag der Befreiung mit einer Mischung aus Gedenkveranstaltung und Dorffest.

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Unweit der immer noch in Trümmern liegenden Häuserzeilen nahe der türkischen Grenze beschwören Vertreter der kurdischen Politorganisationen auf einer eigens errichteten Bühne den Widerstandswillen. Ausländische Gäste geloben feierlich Solidarität. Die Zuschauer beantworten die feurigen Redebeiträge, indem sie immer wieder rufen: «Die Märtyrer werden ewig leben.» Dazwischen erklingt Marschmusik.

Doch die demonstrativ zur Schau gestellte Kampfbereitschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation für die Kurden in Nordostsyrien zurzeit dramatisch ist. Ein kurzer Blick in Richtung Himmel reicht aus, um den Ernst der Lage zu erkennen: Über Kobane fliegen türkische Drohnen. Überall sind kreisförmige Kondensstreifen zu sehen.

Zwischen Hammer und Amboss

«Wir werden uns zur Wehr setzen», sagt Alaadin Atto. Der 50-Jährige ist eigentlich Chef der örtlichen Rettungsdienste. Anfang Januar fuhr er jedoch mit Hunderten anderen Zivilisten zum knapp siebzig Kilometer entfernten Tishrin-Staudamm. An dem strategisch wichtigen Ort am Ufer des Euphrat-Flusses führen die Truppen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), zu denen neben den kurdischen auch arabische und christliche Verbände gehören, einen erbitterten Abwehrkampf gegen von der Türkei unterstützte Milizen.

«Als wir den Damm erreichten, wurden wir sofort von Drohnen angegriffen», sagt Atto. Dabei seien mehrere Menschen verwundet worden. Doch das hält die Männer und Frauen nicht davon ab, auch weiterhin ins Kampfgebiet zu fahren. Alle paar Tage starten Autokonvois in Richtung Damm. Die Zivilisten sollen das wichtige Wasserkraftwerk schützen – aber auch die SDF-Truppen im Feld mit Lebensmitteln und Kleidern versorgen. «Es sind schliesslich unsere Söhne, die dort kämpfen», sagt Atto.

Die Opferbereitschaft zeigt, in welch schwierige Lage die syrischen Kurden seit dem Sturz des Diktators Bashar al-Asad geraten sind. Die Angehörigen dieser staatenlosen Volksgruppe, die sich auch über die Türkei, den Irak und Iran verteilt, bewohnen in Syrien den nördlichsten Streifen des Landes. Nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 und vor allem in Folge ihres siegreichen Feldzugs gegen den IS haben sie dort eine Art Quasistaat errichtet – mit eigener Regierung und eigenem Militär.

Nun ist die Autonome Verwaltung Nordostsyriens – wie das Gebilde offiziell heisst – zwischen Hammer und Amboss geraten. Im Norden rücken protürkische Kämpfer der Syrischen Nationalen Armee (SNA) vor. Dank Luftunterstützung aus Ankara haben sie die Front in eine Todeszone verwandelt. Die Türkei sieht die syrischen Kurden als verlängerten Arm der PKK – jener «Arbeiterpartei Kurdistans», die gegen den türkischen Staat kämpft und diesem als Terrororganisation gilt. Seit Jahren rücken deshalb immer wieder türkische Truppen in Nordostsyrien vor.

Vorerst spielen die Kurden auf Zeit

Der alte Erzfeind ist aber nicht die einzige Bedrohung für die Kurden. Ihrem Autonomiegebiet droht noch eine weitere Gefahr. Seit in Damaskus nicht mehr der geächtete Bashar al-Asad herrscht, sondern die Islamisten der Rebellenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), üben auch die neuen Machthaber Druck auf die Kurden aus. Die SDF müssten ihren Separatstaat aufgeben und die Kontrolle über die Ölfelder im Osten abgeben, sagte der HTS-Chef Ahmed al-Sharaa kürzlich.

Vorerst spielen die Kurden auf Zeit. «Bei der Administration in Damaskus handelt es sich um eine provisorische Regierung. Wir warten auf eine neue Verfassung», sagt Ilham Achmed, die streng wirkende Aussenbeauftragte der Ost-Administration in ihrem Büro in Kamishli, der heimlichen Kurdenhauptstadt Syriens. Man führe derzeit Gespräche. Tatsächlich ist der SDF-Militärchef Mazlum Abdi kürzlich nach Damaskus gereist, um mit Sharaa zu verhandeln.

Konkretes kam dabei bisher nicht heraus. Damaskus fordert, die SDF sollten sich auflösen und ihre Kämpfer einzeln einer neuen Nationalarmee beitreten. Die Kurden hingegen wollen ihre Kampfverbände nur im Block den neuen Herrschern in der Hauptstadt unterstellen. «Wir werden unsere Waffen nicht abgeben, bevor wir Sicherheitsgarantien bekommen haben», sagt Siyamend Ali, der Sprecher der Truppe bei einem Treffen im SDF-Hauptquartier in Hasaka.

Derweil versuchen seine Einheiten die Front gegen die protürkischen Milizen zu halten. Doch es ist ein ungleicher Kampf. Waren die Kurden in ihrem Krieg gegen den IS noch von westlichen Kampfflugzeugen unterstützt worden, stehen sie jetzt alleine da. «Die Drohnen sind tatsächlich eine grosse Herausforderung», sagt Ali. «Aber wir gehen auch in die Offensive über.» Man habe mit eigenen Drohnen etliche Fahrzeuge und Artilleriestellungen des Gegners ausgeschaltet.

Die Wirtschaft liegt komplett am Boden

Überprüfen lässt sich das kaum, denn die Front am Tishrin-Damm ist für Journalisten geschlossen. Zu gefährlich sei es dort. Stattdessen lässt sich die Kampflinie in Tell Tamer besichtigen. In der christlichen Kleinstadt nördlich von Hasaka liegen sich SDF und SNA in einer flachen Ebene gegenüber. Kämpfer oder Waffen sind keine zu sehen. Ein Militärsprecher in Turnschuhen und Trainerhosen zeigt auf ein paar kaputte Dörfer in der Ferne. «Dort stehen die Türken», sagt er.

Immer wieder kommt es auch hier zu Drohnenangriffen. Dabei werden vor allem Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen. Es sind meist bettelarme Bauern, wie etwa die Familie Abdallah aus Tell Harmal, deren Haus mitten in der Nacht unter türkischen Beschuss geriet. Die 8-jährige Melek hat dabei ein Auge verloren, ihr 3-jähriger Bruder kam ums Leben. Ihre Mutter Siham liegt ebenfalls im Spital von Hasaka. «Wir haben nichts mehr», sagt eine Verwandte der beiden, die an Sihams Krankenbett sitzt. «Aber um irgendwo anders hinzugehen, fehlt uns das Geld.»

Der Krieg ist nicht die einzige Herausforderung, mit der sich die Autonomisten im Osten herumschlagen müssen. Ihr Ministaat kann auch in Friedenszeiten kaum überleben. Zwar rühmen sich die Vertreter der Autonomiebehörde, in dem von ihnen kontrollierten Territorium ein demokratisches Rätesystem aufgebaut zu haben, das Frauen und Minderheiten Mitbestimmung erlaubt. Doch die Wirtschaft in dem Gebiet liegt komplett am Boden.

Die Städte sind ärmlich und trist. Wer kann, geht ins Ausland. Das vorhandene Öl kann nur unzureichend gefördert und verarbeitet werden. Zudem ist das topfebene Land, das aussieht wie ein riesiger, ausgetretener Teppich, völlig isoliert. Im Norden haben die Türken die Grenze mit einer Mauer abgeriegelt. Im Osten bildete eine schwankende Pontonbrücke über den Tigris die einzige Verbindung zur Aussenwelt. Sie führt in die autonome Kurdenregion des Iraks, deren Führung den syrischen Brüdern auch nicht immer wohl gesinnt ist.

«Wir sind Syrer und wollen eine einzige Regierung»

Besonders schlimm ist die Lage in den arabischen Gebieten unter SDF-Kontrolle. In Rakka, der ehemaligen Hauptstadt des IS-Kalifats, lungern nachts Strassenkinder zwischen zerschossenen Gebäuden herum. «Es gibt hier nichts zu tun», erzählt Ayham Khalaf, ein junger arbeitsloser Mann, der mit seinen Freunden in einem Saftladen sitzt. «Wer kann, geht weg. Wer bleibt, nimmt Drogen.» Vor allem die Synthetikdroge Crystal Meth richte in der kaputten Stadt inzwischen Verheerungen an.

Entsprechend wütend sind viele auf die Verwaltung. Die Regierung tue zu wenig, um die Lage zu verbessern, sagt ein Bauarbeiter aus Rakka. Auch sonst fühlen sich viele Araber in der kurdisch dominierten Zone offenbar nicht wirklich vertreten. Er sei den SDF dankbar, dass sie den IS vertrieben hätten, sagt Khalaf, der einst vor der Terrormiliz nach Libanon geflohen war. «Aber am Ende sind wir Syrer und wollen eine einzige, gemeinsame Regierung.» Die SDF müssten sich daher in die neue Armee eingliedern.

Lokale Führer wie Huweydi al-Shlash stellen sich bereits offen auf die Seite der neuen Damaszener Regierung. «Die SDF-Kämpfer drangsalieren die Bevölkerung und tun nichts gegen den Drogenhandel», behauptet Shlash, der kürzlich in Damaskus war. Der bärtige Stammeschef war allerdings schon früher äusserst flexibel. So galt er 2014 noch als glühender Unterstützer des IS. Bis heute verteidigt er die Schreckensherrschaft der Truppe. «Damals herrschte wenigstens Ordnung», sagt er.

Bereits vor dem Sturz des Asad-Regimes hatten sich deshalb immer wieder lokale Araberstämme gegen die SDF erhoben. Auch jetzt kommt es rund um Deir al-Zur und weiter südlich im Euphrat-Tal zu Gefechten. Noch sind die gut ausgebildeten SDF-Kämpfer Herr der Lage. Doch das Chaos hat auch bei den versprengten Resten des IS für neue Hoffnung gesorgt. «Wir stellen bereits jetzt eine Zunahme von IS-Aktivitäten fest», sagt der Armeesprecher Ali.

Die wahre Macht liegt bei den Kadern

Die bedrängte Administration versucht deshalb, ihre internationalen Unterstützer zusammenzutrommeln. Doch die westlichen Staaten unter Führung der USA, die immer noch Truppen in Ostsyrien stationiert haben, zieren sich und schicken lieber Delegationen nach Damaskus. «Wir sind mit unseren Partnern im Kontakt», sagt Ilham Achmed, die Aussenbeauftragte. «Aber viele von ihnen wollen ihre Beziehungen zur Türkei nicht gefährden und meiden uns daher.»

So müssen sich die belagerten Ostsyrer mit den üblichen Verdächtigen begnügen. Immer wieder karren sie obskure Besuchergruppen durch ihre Einflusszone. Italienische Marxisten, Abgeordnete der französischen Linkspopulisten und seltsame Amerikaner mit gefälschten Presseausweisen versichern den Kurden dann ihre Solidarität, beschimpfen den türkischen Präsidenten Erdogan und singen gemeinsam mit den berühmten Frauenbrigaden der YPJ revolutionäre Lieder.

Für viele dieser Gäste ist Rojava – wie sie das Autonomiegebiet nennen – ein Sehnsuchtsort: eine basisdemokratische, antikapitalistische Räterepublik, wo emanzipierte Frauen mit der Waffe in der Hand gegen Imperialismus und Faschismus kämpfen. Auch deshalb hatte die selbsterklärte Revolution in Nordostsyrien zu ihren Hochzeiten Hunderte ausländische Kämpfer angezogen, die hier gegen den IS fochten.

Die Realität sehe weniger rosig aus, sagt ein Lokaljournalist aus Kamishli, der anonym bleiben will. Die wahre Macht liege nicht bei den Räten, sondern bei den sogenannten Kadros – hartgesottenen Parteioffizieren, die einst von den verbündeten türkisch-kurdischen PKK-Kämpfern in den Kandil-Bergen im benachbarten Irak gedrillt worden waren und zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges in ihre Heimat zurückkamen. «Manche von ihnen sind kompetent», sagt der Journalist. «Andere hingegen sind durch und durch korrupt.»

«Notfalls kämpfen wir bis zum Tod»

Für viele Kurden spielt das alles jedoch eine untergeordnete Rolle. Sie sorgen sich vor allem um ihr Überleben. «Wir wurden als Minderheit immer wieder verfolgt und ermordet. Jetzt sind in Damaskus ausgerechnet die Jihadisten an der Macht», sagt Hoger Osman, ein Sportladenbesitzer aus Kamishli, in seinem Wohnzimmer. An der Wand hinter ihm hängen alte Gewehre, ein Porträt des PKK-Chefs Abdullah Öcalan und ein Foto seiner Schwester, die als YPJ-Kämpferin 2015 in der Schlacht um Kobane ums Leben kam.

Sie ist nicht die einzige Gefallene in der Familie. Vor ein paar Tagen starb auch Osmans Vater, Mohammed Said Osman. Er war mit Hunderten weiteren Zivilisten zum Tishrin-Damm gefahren und dort einem Drohnenangriff zum Opfer gefallen. Eine riesige Menschenmenge trug den 61-Jährigen, der in Kamishli einen lokalen Fussballklub betreut hatte, als Märtyrer zu Grabe. Sein Sohn ist seither voller Trauer. Gleichzeitig gibt er sich aber kämpferisch. «Nach all den Opfern werden wir unsere Waffen niemals abgeben», sagt er. «Notfalls kämpfen wir bis zum Tod.»

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