Freitag, Februar 7

Der Fall schockierte: Obwohl die Behörden wussten, was er getan hat, durfte ein Behindertenbetreuer einfach weiterarbeiten. Nun benennt der Stadtrat die Verantwortlichen.

In einem Heim für schwerstbehinderte Menschen öffnet ein Praktikant im Jahr 2018 die geschlossene Tür zu einem Zimmer – und erschrickt. Vor einem Bett steht ein Betreuer mit heruntergelassener Hose, der sich gerade an einem Bewohner sexuell vergeht.

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Ein Strafverfahren wird eingeleitet, der Betreuer fristlos entlassen. Doch der Mann hat noch einen anderen Job, bei der Zürcher Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen (SKB) in Wollishofen. Hier ist der Betreuer seit 2014 angestellt, im Schwimmunterricht.

Nach dem Missbrauchsfall erhält die Schule sogleich eine Meldung über ihren Angestellten. Sie weiss also, wen sie da beschäftigt. Dennoch darf der Betreuer an der SKB noch dreieinhalb Jahre weiterarbeiten – und das in einem Umfeld von vulnerablen Menschen, die teilweise gar nicht sprechen und sich somit auch nicht wehren können. Die Schulbehörde hat somit einen Sexualstraftäter dort gelassen, wo er am gefährlichsten ist. Inmitten von wehrlosen Menschen.

Wie kann das sein?

Das fragten sich auch mehrere Mitglieder des Zürcher Gemeinderats, nachdem eine NZZ-Recherche den Fall im Dezember publik gemacht hatte. In einem dringlichen Vorstoss wollten sie vom Stadtrat wissen, warum der Mann nicht entlassen worden sei und warum man ihn nicht wenigstens beurlaubt habe bis zum rechtskräftigen Abschluss der Strafuntersuchung.

Täter kehrt an Schule zurück

Am Donnerstag publizierte der Stadtrat nun seine Antworten. Darin steht, dass die Schule den damals 53-Jährigen nach dem Vorfall in jenem Heim für zwei Monate beurlaubt habe. Doch anstatt ihn zu entlassen oder bis zum Ende der strafrechtlichen Untersuchung freizustellen, brachte ihn das Schulamt zurück an die SKB – als Begleiter von Schulbustouren.

Der Stadtrat betont zwar, das Schulamt habe dem Angestellten Auflagen gemacht. So habe er keine pflegerischen Handlungen mehr vornehmen oder sich allein mit Schülerinnen und Schülern aufhalten dürfen. Doch diese Auflage wurde nicht wirklich eingehalten, denn: Im Schulbus sass der Betreuer hinten alleine mit den Kindern.

An dieser Situation änderte sich nichts, als der Mann 2019 erstinstanzlich wegen Schändung verurteilt wurde. Auch als das Zürcher Obergericht den Entscheid bestätigte und die Strafe sogar noch erhöhte, durfte der Stadtzürcher Angestellte weiterarbeiten. Erst nach dem rechtskräftigen Urteil vor dem Bundesgericht im Jahr 2022 hat die Schule den Betreuer entlassen.

Was in diesen dreieinhalb Jahren an der Schule passiert ist, bleibt unklar. Sicher ist: In einem Fall kam es zu Grooming. So nennt man die Kontaktaufnahme von Sexualstraftätern mit einem potenziellen Opfer und dessen Umfeld.

Im Dezember noch reagierte das zuständige Schul- und Sportdepartement auf kritische Fragen der NZZ schmallippig. Ein anderes Vorgehen sei nicht möglich gewesen, hiess es. Der damalige Kenntnisstand der Behörde habe eine Kündigung des Angestellten nicht zugelassen.

«Es hat mich traurig gemacht»

Heute klingt es ganz anders. In seiner Antwort auf die dringliche Anfrage im Parlament schreibt der Stadtrat von einer «Fehleinschätzung». Es sei falsch gewesen, den Mitarbeiter «trotz Bedenken der Schulleitung» wieder einzusetzen. Spätestens nach Vorliegen des erstinstanzlichen Urteils 2019 hätte man den Mann entlassen sollen.

Die Verantwortung für diese Fehleinschätzung trügen das Schulamt als Anstellungsinstanz sowie der Rechtsdienst des Departements – aber auch dessen Vorsteher: Stadtrat Filippo Leutenegger (FDP).

Auf Anfrage sagt Leutenegger, der Fall habe ihn persönlich getroffen. «Über Weihnachten hat mich das sehr beschäftigt. Es hat mich traurig gemacht, dass so etwas in einem so sensiblen und vulnerablen Umfeld passiert ist.» Er sei deshalb froh, dass das Ganze öffentlich geworden sei. «Ich möchte, dass so etwas möglichst nicht mehr vorkommt.»

Um das zu erreichen, hat das Schul- und Sportdepartement eine Reihe von Massnahmen definiert. Um das Geschehene aufzuarbeiten, habe man Fachstellen und Experten für sexualisierte Gewalt beigezogen, heisst es im Schreiben des Stadtrats. Zudem sei die Schulleitung auf jene Eltern zugegangen, deren Kinder in Kontakt mit dem Sexualstraftäter gewesen seien. Diese habe man informiert und auf Beratungsstellen hingewiesen, wo sie sich bei Bedarf melden könnten.

Erste Konsequenzen aus dem Fall hat das Departement bereits gezogen. Ein Krisen- und Interventionskonzept ist laut Stadtrat im Aufbau. Felix Uhlmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, erarbeitet eine Anleitung, wie man mit Mitarbeitern umgeht, die im Verdacht eines Sexualdelikts stehen.

Auch innerhalb des Rechtsdiensts soll sich etwas ändern: Die eigenen Experten werden besser sensibilisiert für die Situation vulnerabler Kinder und Jugendlicher mit schweren Beeinträchtigungen. Zudem ist ein Merkblatt zu Grooming in Erarbeitung.

Eine wichtige Neuerung betrifft die sogenannten Sonderprivatauszüge. Darin steht, ob eine Person für eine Straftat verurteilt wurde – und ob gegen sie ein Tätigkeitsverbot vorliegt. Diese Auszüge sollen künftig bei städtischen Sonderschulen nicht nur bei der Anstellung verlangt werden, sondern auch später wiederkehrend.

Dieses Vorgehen nützt allerdings nur etwas, wenn ein Sexualstraftäter bereits rechtskräftig verurteilt wurde. Oft aber vergehen zwischen Tat und Urteil Jahre – gerade dann, wenn ein Beschuldigter ein erstinstanzliches Urteil anficht. So ist das auch in diesem Fall geschehen.

Damit gewinnen Täter Zeit. Sie können sich problemlos an einem anderen Ort als Pfleger bewerben oder Lager mit Kindern leiten. Ist der Entscheid nicht rechtskräftig, gilt die Unschuldsvermutung – und es fehlt der Eintrag im Sonderprivatauszug.

Opferschutz vor Unschuldsvermutung?

Um das zu verhindern, wurde ein Mitte-Politiker in Bern aktiv. Der Walliser Beat Rieder hat im Ständerat eine Motion eingereicht. Sie verlangt, dass im Sonderprivatauszug einschlägige Vorgeschichten schon dann ersichtlich sind, wenn ein Gericht bereits ein Tätigkeitsverbot zum Schutz von Minderjährigen oder anderen besonders schutzbedürftigen Personen ausgesprochen hat.

So soll verhindert werden, dass sich ein Beschuldigter nicht völlig unbemerkt weiteren potenziellen Opfern annähern kann. «Der Opferschutz ist in dieser Konstellation eindeutig höher zu gewichten als die auch nach der erstinstanzlichen Verurteilung weiter geltende Unschuldsvermutung», heisst es in dem Papier.

Der Bundesrat sieht das Anliegen allerdings kritisch. Es bestehe die Gefahr, dass es zu unzulässigen Vorverurteilungen kommen könne – und dass Vorwürfe «in den Köpfen» hängen blieben, die später von einem Gericht allenfalls revidiert würden. Deshalb gewichte das Recht die Unschuldsvermutung in gewissen Konstellationen höher als den Opferschutz, und dies auch nach einer erstinstanzlichen Verurteilung.

Dennoch schreibt der Bundesrat, er werde das Anliegen der Motion im Rahmen der anstehenden Revision des Strafregistergesetzes prüfen und einen geeigneten Vorschlag ausarbeiten. Um dem nicht vorzugreifen, empfiehlt er die Motion derzeit zur Ablehnung. Das Geschäft ist noch hängig.

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