Samstag, November 23

Die Schweiz und der Instagram-Tourismus: Bei Flims in Graubünden gibt es zwei idyllische Seen. Der versteckte, kleine Crestasee bei Flims wurde durch einen Ohrwurm, die Werbung und Instagram berühmt. Aber noch nicht so überrannt wie sein grosser Bruder.

Wer zu spät kommt, den bestraft der Parkplatzeinweiser. «Keine Chance», sagt er, wenn man an einem sommerlichen Sonntagmittag durch das Örtchen Trin in Graubünden Richtung Crestasee fährt. Dann stellt er sich mit seinem in die lange Hose gestopften Kurzarmhemd mitten auf den Weg. Der Parkplatz oben, am See gelegen, sei hoffnungslos überfüllt, sagt der Mann freundlich und bestimmt. Er weist auf einen anderen Parkplatz. Wie weit es von diesem Parkplatz zum See zu laufen ist? «Mindestens eine halbe Stunde», sagt er, und nun lacht er. Das Smartphone zeigt einen noch längeren Weg und eine «schwere Hitzewarnung» an. Der Ausflug fällt ins Wasser, ohne dass man ebendieses sieht.

Die Schweiz und ihre Instagram-Hotspots

Der Schweizer Tourismus hat sich in den vergangenen Jahren durch die sozialen Netzwerke verändert. Nicht nur zum Guten. Was haben Instagram, Tiktok und Co. mit den schönsten Orten des Landes gemacht? Wer profitiert, und wer verliert? Und kann es ewig so weitergehen mit der Inszenierung der Natur?

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Den Crestasee findet man in fast jeder Auflistung von «Die schönsten Orte in der Schweiz» und «Die schönsten Schweizer Seen». Zehntausende Beiträge vom Crestasee gibt es auf Instagram. Die frühere Tennisspielerin Martina Hingis war hier, der Starkoch Jamie Oliver, Influencerinnen und Influencer aus dem In- und Ausland. Sie alle posten und bejubeln die Schönheit dieses Sees, der versteckt im Wald liegt. Die Tourismusbehörde Flims/Laax/Falera bewirbt ihn als «echten Geheimtipp».

Schon vor Jahren nutzten die SBB diesen Geheimtipp als Plakatmotiv, die Migros drehte einen Werbeclip hier, Calanda liess seine Werbebotschafter am Crestasee Bier trinken und fischen – obwohl das Fischen dort verboten ist. Und die Bündner Mundartband Bündnerflaisch schuf mit «Crestasee» eines dieser Sommerlieder, die man nach dem ersten Hören gerne vergessen würde, aber den ganzen Sommer nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Der Crestasee hat auf Wikipedia einen eigenen Absatz zum Thema «Medienstar».

Crestasee

Ein Geheimtipp ist der See längst nicht mehr. Inzwischen gilt: Nur wer früh kommt, den belohnt der Crestasee. Mit einer spiegelglatten Oberfläche, dem Blick auf den Gipfel des Flimsersteins in über 2000 Metern Höhe, mit Vogelgezwitscher und Ruhe. Wie an diesem Donnerstagmorgen. Eine Seniorin sitzt auf der leeren Badeinsel mitten im See. Sie zeigt nach unten und sagt: «Das do isch z beschta Wasser in ganz Graubünda.» Es sei so weich, so klar. «Immer, wenn i zerschta Mol innataucha, fühlt sich’s ah, als wür i mi in a Sidatuach wickla.»

Ins Schwärmen sind auch immer mehr Auswärtige gekommen. «Das kam erst durch Social Media so richtig», sagt André Gisler, der Tourismusdirektor der Region, die den Crestasee gerne selbst als Fotomotiv verwendet. Laax und Trin, die beiden Nachbargemeinden, posten auf ihren Social-Media-Accounts regelmässig stimmungsvolle Bilder vom Crestasee. Das garantiert Hunderte Likes – «Wow, da wäre ich jetzt auch gerne»-Kommentare ebenso.

Da wächst die Befürchtung, den Medienstar könnte das Schicksal seines grossen Bruders, des rund zwei Kilometer entfernten Caumasees, ereilen. Über den hatte der Flimser Gemeindepräsident Adrian Steiger vergangenen Sommer zu «Watson» gesagt: «Wir stossen an gewissen Tagen an die Kapazitätsgrenze.» Um diese nicht zu überreizen, ist der Caumasee die nun wohl teuerste Badi der Schweiz – der Eintritt kostet 19 Franken.

Damit solle der See als «Perle der Natur» bewahrt werden, erklärten die Verantwortlichen, «in den letzten Jahren haben wir hier erstmals die Dimensionen von Overtourism miterlebt», sagte Christoph Schmidt von der verantwortlichen Weisse-Arena-Gruppe. Man bemüht sich, die vielen Badegäste mit Hinweisschildern zum Crestasee weiterzuleiten. Als kämen dorthin nicht auch schon genug Menschen.

Was die Frage aufwirft: Zieht die Instagram-Karawane nun einfach weiter? Müssen sich die Einheimischen darauf gefasst machen, dass auch am Crestasee Verpackungen, Flaschen und Einweggrills Ufer und Wald vermüllen, dass Menschen ihr Geschäft verrichten oder ihre Autos auf privaten Grundstücken parkieren?

Am Crestasee kostet der Eintritt 7 Franken, egal, ob man baden oder nur zwischen Rottannen, Fichten und Eschen auf der schattigen Wiese liegen will.

Gegen Nachmittag kämen jetzt schon gerne drei Mal so viele Leute wie vor dem Instagram-Zeitalter, sagt der Tourismusdirektor André Gisler. «Von wenigen heissen Sonntagen abgesehen reden wir aber immer noch über homöopathische Dosen.» Overtourism herrsche anderswo.

Trotzdem bemängeln Einheimische, dass zu viel los sei an «ihrem» See, der «laut und lärmig» geworden sei. Dass der Steg zuweilen so voll sei, dass man kaum ins Wasser komme. Sie kritisieren, dass man für einen Bergsee Eintritt zahlen müsse und dass die Natur kommerzialisiert werde. Und, natürlich, dass zu viele Auswärtige den einstigen Geheimtipp entdeckt hätten.

Auf der Badeinsel, mitten im Wasser, ist es inzwischen Mittag geworden. Kleinkinder spielen im vom Steg begrenzten, flachen Bereich. Zwei Herren schwimmen im 22 Grad warmen Wasser. Die Seniorin auf der Badeinsel blickt durch das klare, türkis schimmernde Wasser und sagt: «Ich kann mich einfach nicht losreissen.» Sie vermutet, es könnte am moorigen Untergrund liegen, dass der See so besonders ist.

Der Untergrund spielt eine wichtige Rolle für den Crestasee – ohne ihn gäbe es den See nicht mehr.

Anfang des 19. Jahrhunderts wollten die Bauern neues Weideland gewinnen und versuchten, den See trockenzulegen. 1870 gelang ihnen das beinahe, sie leiteten drei Viertel des Wassers ab – um festzustellen, dass Kalksinter den Grund unfruchtbar machte. Die Bauern gaben ihre Trockenlegungspläne auf, der See gelangte erst Jahrzehnte später zur ursprünglichen Grösse zurück. Ab dann nutzten die Einheimischen ihn touristisch, hauptsächlich für Gäste aus dem Bündnerland. Bis die Menschen begannen, ihr Leben in kleinen digitalen Kacheln mit der ganzen Internet-Welt zu teilen, und den See doch noch, auf andere Art, fruchtbar machten.

Davon profitieren die Gemeinde Flims und eine Familie, in deren Besitz der See liegt. Die Familie betreibt am Ufer einen Kiosk, die Gemeinde verpachtet am Hang darüber ein Restaurant. Beide dürften sich über Besucherzahlen freuen, reden aber nicht darüber.

Also redet der Tourismusdirektor, dessen Behörde ebenfalls profitiert. Früher seien die Touristen nur zur Sommerfrische oder zum Skifahren gekommen, heute kämen sie das ganze Jahr, zu Ausflugszielen in allen Höhenlagen, sagt André Gisler.

Was er nicht sagt: Sie müssen bei Ausflugswetter wirklich früh los, um in die Nähe des Crestasees zu kommen.

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