Die norditalienische Stadt wurde von der Pandemie besonders stark heimgesucht. Nun verzückt ihr göttlicher Klub das ganze Land – es ist auch ein Lebenszeichen der Leisen gegen die Lauten.
Bis am Mittwoch machte es den Anschein, als sei der italienische Fussball 2024 zur Normalität zurückgekehrt: Inter Mailand hatte den «Scudetto», den Meistertitel, geholt, Juventus Turin den Cup-Sieg. Ein Jahr nach dem Wunder von Neapel, als der SSC Napoli nach 33 Jahren erstmals wieder an der Spitze der Tabelle stand und die Stadt am Fusse des Vesuvs wochenlang im «Scudetto»-Taumel versank, war man wieder dort, wo man immer war. Die grossen reichen Klubs aus dem Norden machen die Sache unter sich aus, alles wie gehabt.
Doch dann geschah etwas, was selbst Experten kaum für möglich gehalten hatten: Ein kleiner Klub aus dem Norden Italiens, Atalanta Bergamo, besiegte am Mittwochabend in Dublin die Unbesiegbaren aus Deutschland, Bayer Leverkusen, jenen Verein, der die deutsche Meisterschaft gewonnen hatte und seit 51 Partien ungeschlagen war. Den Verein der Stunde, angeführt von Xabi Alonso, dem ehemaligen spanischen Nationalspieler, der mit Leverkusen sein Gesellenstück als Trainer abgelegt hatte.
3:0 lautete das Verdikt am Ende, ein überdeutlicher und verdienter Sieg für Atalanta, ein Wunder fast schon, mit drei herrlichen Toren des nigerianischen Stürmers Ademola Lookman. Die Bergamasken hatten den Code des deutschen Meisters geknackt, und Italien ist plötzlich um eine wunderbare Fussball-Geschichte reicher. Die «Dea», wie man die Atalanta wegen der Göttin mit dem wehenden Haar in ihrem Wappen nennt, hat das ganze Land verzückt.
Ein Lebenszeichen der Tüchtigen
«Es ist eine unbeschreibliche Freude, vergleichbar nur mit dem Moment, in dem ein Kind geboren wird», heisst es euphorisch im «Corriere della Sera». «Divina», göttlich, titelt die «Gazzetta dello Sport». Selbst im politischen Epizentrum des Landes, im Palazzo Chigi in Rom, sah man sich zu einer Reaktion veranlasst. «Ein historischer Erfolg für Bergamo, ein Stolz für ganz Italien», liess Regierungschefin Giorgia Meloni auf «X» verlauten.
Congratulazioni all’#Atalanta che ha vinto con una straordinaria prestazione la finale di #EuropaLeague.
Un successo storico per la città di Bergamo, un orgoglio per l’Italia intera 🇮🇹@Atalanta_BC #UELfinal pic.twitter.com/IlsDuDKpI7— Giorgia Meloni (@GiorgiaMeloni) May 23, 2024
Als die SSC Napoli vor Jahresfrist den Meistertitel holte, interpretierte man das als Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins der Stadt im Süden, als Zeichen an den Norden, dass mit Neapel zu rechnen sei, als Beweis für neue wirtschaftliche und kulturelle Dynamik. Der Gewinn des «Scudetto» schrieb sich ein in die lange und schwierige Auseinandersetzung des Landes mit dem «Mezzogiorno», dem vermeintlich rückständigen Süden, der in allen Statistiken während vielen Jahren zu den Schlusslichtern gehörte.
Im Fall von Bergamo liegen die Dinge etwas anders. Die Provinzstadt mit ihren rund 120 000 Einwohnern liegt nur etwa fünfzig Kilometer von Mailand entfernt und steht immer etwas im Schatten der lombardischen Metropole. Aber es geht hier nicht um arm gegen reich, dafür ist Bergamo viel zu wohlhabend.
Der Gewinn der Europa-League ist für viele «Bergamaschi» vielmehr ein Erfolg im Konkurrenzkampf mit einem Zentrum, das alles absorbiert und sämtliche Aufmerksamkeit für sich beansprucht – ein Lebenszeichen der Leisen gegen die Lauten, der Tüchtigen gegen die Präpotenten, derjenigen, die es ohne Glamour, dafür mit Geduld und harter Arbeit schaffen, an die Spitze zu gelangen.
«Mit Atalanta zu gewinnen ist eines dieser Fussballmärchen, die es nur selten gibt», sagte der Trainer Gian Pietro Gasperini nach dem Spiel. «Es zeigt, dass es noch Spielraum gibt für echte Leistung, Spielraum auch für Ideen. Nicht alles muss auf kaltes hartes Geld hinauslaufen.»
Der letzte Titelgewinn der Atalanta liegt über sechzig Jahre zurück. 1963 holte die Mannschaft den Titel im Cup-Final. Seither rennt sie den Grossen hinterher. Zwischendurch musste sich der Klub sogar mit der dritten italienischen Liga begnügen. Seit «Gasp», wie sie Gian Pietro Gasperini nennen, den Verein trainiert, seit 2016 also, redet Atalanta wieder ein Wörtchen mit im italienischen Fussball. Die Mannschaft belegt mittlerweile regelmässig vordere Plätze und ist fast schon Dauergast in der Champions League.
Gasperinis Erfolgsrezept beruht darauf, dass er relativ unbekannte Spieler integriert und ihnen ein System eintrichtert, das wiederum darin besteht, jeweils überfallartig in die Offensive zu wechseln, wenn sich denn die Gelegenheit bietet. Mitunter wachsen einzelne Spieler auf diese Weise über sich hinaus, fallen auf und wechseln später – für viel Geld – zu grösseren Klubs, was ein einträgliches Geschäft für Atalanta ist. Der Verein, der sich im Besitz des Unternehmers und ehemaligen Fussballers Antonio Percassi befindet, gilt wirtschaftlich als gesund und gut geführt.
«Andiamo all’Atalanta»
Aber eben: Ganz nach oben reichte es bisher nie – bis zur «Notte della Dea» von Dublin, zur Nacht der Göttin, wie es aus den TV-Sportreportern nach dem 3:0 durch Lookman förmlich herausbrach. Endlich hat man es geschafft, die Atalanta ist nicht mehr nur jene tüchtige Equipe, die zwar stets ordentlich arbeitet, aber es nie zuoberst aufs Treppchen schafft. Seit Mittwochabend ist sie im siebenten Fussballhimmel.
Die Stadt weiss es ihr zu danken. Sie ist mit ihrem Fussballverein stark verbunden. Die Sympathie zum Klub reicht hier vielleicht sogar tiefer als anderswo. Als die Region um Bergamo während der Pandemie so hart wie kaum eine andere Gegend in Europa von Covid getroffen wurde und Bilder von Lastwagenkonvois mit Särgen die Runde machten, war der Fussballverein für viele so etwas wie der letzte Hoffnungsschimmer. Die ehedem berüchtigten Fans aus der Nordkurve halfen mit, ein Feldspital auf dem Messegelände zu errichten, oder sie kauften Lebensmittel für die Betagten ein und brachten sie ihnen nach Hause – als würde ihnen die Atalanta die Gewissheit vermitteln, dass man die Tragödie besiegen kann.
Während man anderswo in Italien am Sonntag «ins Stadion» geht oder «zum Spiel», geht man in Bergamo schlicht «all’Atalanta». Atalanta ist Bergamo, Bergamo ist Atalanta. Nichts bringe die Verbundenheit der Stadt mit ihrem Verein so gut zum Ausdruck wie diese Redensart, sagt Giorgio Gori, der Stadtpräsident. «Andiamo all’Atalanta», sagen die Fans hier. Seit der Nacht von Dublin tun sie das noch lieber.